
«direkt»: François Bausch, 2020 wurde unter Ihrer Verantwortung als Verkehrsminister der kostenlose öffentliche Verkehr in Luxemburg eingeführt. Was sind für Sie die zentralen Erfahrungen und Erkenntnisse aus dieser Umstellung?
François Bausch: Als diese Idee 2018 erstmals in der Regierung diskutiert wurde, war ich skeptisch. Nicht, weil ich grundsätzlich dagegen war, sondern eher, weil ich die Ansicht vertrat, dass der Ausbau des Angebots und die Qualität des öffentlichen Verkehrs Priorität haben sollten. Interessanterweise bestand ausgerechnet die liberale Partei Luxemburgs auf den kostenlosen Zugang. Für mich war klar, dass der Gratis-öV nicht anstatt wichtiger Investitionen in den Ausbau umgesetzt werden darf, sondern mit diesen Investitionen.
«direkt»: Wieso war Ihnen das so wichtig?
François Bausch: Das Wichtigste im öffentlichen Verkehr muss das Angebot, die Qualität und die damit einhergehenden Investitionen sein. Das ist sozusagen der Kuchen, während der kostenfreie Zugang das Sahnehäubchen ist. Mir ist auch wichtig, immer wieder zu betonen, dass nicht der öV gratis ist, sondern der Zugang dazu. Alle Luxemburger:innen finanzieren den öffentlichen Verkehr über die Steuern, die sie bezahlen, mit. Je mehr eine Person verdient, desto mehr trägt sie bei. Unser Modell ist deshalb sozial sehr gerecht.
«direkt»: Sie ziehen also eine positive Bilanz?
François Bausch: Absolut. Die Einführung des Gratis-öV hat bisher sehr gut funktioniert. Die Passagier:innen brauchen kein Ticket mehr. Das hat die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs sehr stark vereinfacht. Viele wollen das nicht mehr missen. Davon profitieren auch etwa 240’000 Pendler:innen, die täglich aus Frankreich, Belgien oder Deutschland kommen, um in Luxemburg zu arbeiten.
«direkt»: Die Forschung ist sich uneins, ob kostenlose öV tatsächlich mehr Menschen dazu bewegt, vom Auto auf den Zug oder das Tram umzusteigen. Ist der ökologische Aspekt eher zweitrangig?
François Bausch: Die wichtigste Frage ist jene nach der Zielsetzung. Was wollen wir mit dem Gratis-öV eigentlich erreichen? Als Deutschland beispielsweise das 9-Euro-Ticket einführte, haben mich deutsche Kolleg:innen um meine Meinung gefragt. Meine Antwort war: «Ihr macht das ja nicht, um die Nutzung oder die Qualität des öffentlichen Verkehrs zu fördern. Ihr macht das, weil die Haushalte aufgrund der Energiepreise so stark belastet sind und ihr sie entlasten wollt.» Aber die öffentlichen Verkehrsmittel sind in vielen deutschen Städten und im ländlichen Raum seit Jahrzehnten chronisch unterfinanziert. Das heisst, die Anbindung ist schlecht. Und so steigen frustrierte Menschen aus dem Zug aus, die nicht wieder einsteigen werden – auch wenn das Ticket nur neun Euro kostet.
«direkt»: Dann sollten wir uns nichts vormachen: ein verbilligter öV wird das Klima nicht retten?
François Bausch: Die Forschung hat trotzdem einen kleinen Effekt auf die Nutzung nachgewiesen. Ein Beispiel: Luxemburg hat 2010 begonnen, in die Bahn zu investieren – drei Jahre bevor ich Verkehrsminister geworden bin. Wir haben die Investitionen nochmals stark gesteigert. Es gab neue Vertaktungen, Verknüpfungen, neue Verkehrsmittel – und den kostenlosen Zugang ab 2020. Das Resultat: Die Passagier:innenzahlen sind in zehn Jahren um 80 Prozent gewachsen – alleine beim Zugverkehr! Aber ich bin überzeugt, dass das nicht nur dem gratis Zugang zu verdanken ist, sondern auch, weil wir das Angebot verbessert haben.
«direkt»: In der grössten Stadt der Schweiz wird über die 365-Franken-Initiative abgestimmt, die das lokale öV-Abo auf einen Franken pro Tag senken will. Gegner:innen dieser Idee sagen, eine Vergünstigung nach dem Giesskannen-Prinzip sei nicht zielführend. Was würden Sie ihnen entgegnen?
François Bausch: Die Schweiz ist europaweit auf dem zweiten Platz, was die Investitionsausgaben in den öffentlichen Verkehr pro Kopf anbelangt – gleich hinter Luxemburg. Die Qualität der öffentlichen Verkehrsmittel in Zürich oder in der Schweiz sind also insgesamt sehr gut – weil in den öV investiert wurde. Meines Erachtens würde ein reduziertes Zürcher Ticket die Nutzung des öffentlichen Verkehrs deutlich erleichtern. Folglich sinken die Zugangshürden, was allen dieselben Mobilitätschancen bietet. Voraussetzung muss jedoch auch hier sein, dass der Unterhalt steuerlich finanziert wird und kein Abbau stattfindet. Oder im Gegenteil, dass sogar die Qualität noch ausgebaut wird. Darf ich noch eine allgemeine Bemerkung hinzufügen?
«direkt»: Gerne.
François Bausch: Die Umgestaltung der Mobilität ist eine der grössten Herausforderungen der Menschheit im 21. Jahrhundert. Es hängen viele Sachen dran, unter anderem natürlich die Klimafrage: Über ein Drittel der CO2-Emissionen wird vom Verkehr, vor allem vom Strassenverkehr verursacht. Es geht aber auch um die Frage, wie wir unsere urbanen Räume organisieren. Mobilität spielt überall eine sehr bedeutende Rolle. Wir müssen «out of the box» denken. Ziel ist nicht Fahrzeuge zu bewegen, sondern Menschen.