«direkt»: Meret Lütolf, welche Note geben Sie der schweizerischen Familienpolitik?
Meret Lütolf: Aus internationaler Perspektive würde ich die Schweizer Familienpolitik derzeit mit einem «knapp genügend» bewerten. In den letzten Jahren gab es zwar einzelne Fortschritte, wie etwa die Einführung des zweiwöchigen Vaterschaftsanspruchs oder punktuelle Investitionen in die familienergänzende Kinderbetreuung. Was jedoch fehlt, ist eine strategisch abgestimmte, kohärente Gesamtpolitik.
Meret Lütolf forscht an der Universität Bern zu Familienpolitik. Sie hat ihre Doktorarbeit zum Thema Elternzeitmodelle und Verteilung der Erwerbs- und Care-Arbeit in den OECD-Ländern verfasst.
«direkt»: Wie könnte diese aussehen?
Meret Lütolf: Massnahmen, die Familien betreffen, sind in der Schweiz institutionell stark verteilt. Sie finden sich im Arbeitsrecht, im Steuer- und Sozialversicherungssystem oder in der Bildungspolitik. Es fehlt jedoch ein Bundesamt mit der nötigen Steuerungsverantwortung, um diese Massnahmen wirksam zu koordinieren. Aktuell haben wir einen Flickenteppich aus Einzelmassnahmen ohne klares Ziel. Dabei wäre Familienpolitik ein zentrales Instrument, um den Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung umzusetzen – etwa durch die egalitäre Verteilung von Betreuungs- und Erwerbsarbeit.
«Nach den 14 Wochen Mutterschaftszeit wird implizit davon ausgegangen, dass Familien diese Zeit durch unbezahlten Urlaub oder Ferienansprüche verlängern. Für viele Eltern ist das finanziell aber schlicht nicht möglich.»
«direkt»: In der Schweiz gibt es keine Elternzeit, nur 14 Wochen Mutterschafts- und zwei Wochen Vaterschaftszeit. Zieht dieser Faktor die Gesamtnote runter?
Meret Lütolf: Ja, und zwar deutlich. In meiner Forschung habe ich einen Indikator entwickelt, der die «egalitäre Qualität» von Elternzeitregelungen in 20 OECD-Ländern vergleicht. Die Schweiz schneidet besonders schlecht ab. Ausschlaggebend ist die geringe Gesamtdauer der Elternzeit, der ausgeprägte Unterschied zwischen den Geschlechtern und die für viele Familien nicht ausreichende finanzielle Entschädigung. Ein besonders kritischer Punkt ist die soziale Selektivität.
«direkt»: Was bedeutet das?
Meret Lütolf: Nach den 14 Wochen Mutterschaftszeit wird implizit davon ausgegangen, dass Familien diese Zeit durch unbezahlten Urlaub oder Ferienansprüche verlängern. Für viele Eltern ist das finanziell aber schlicht nicht möglich. Durch den familienpolitischen Flickenteppich kommt hinzu, dass es keinen allgemeinen Anspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz gibt – insbesondere nicht für einen kleinen Säugling. Wer dennoch einen Platz findet, sieht sich vor der nächsten Herausforderung: Die familienergänzende Kinderbetreuung kostet sehr viel. Wer sich also keine längere Erwerbspause leisten kann, wird von den heutigen Strukturen nicht abgefedert – in vielen Fällen müssen die Grosseltern einspringen. Wenn aber keine Unterstützung durch Grosseltern oder andere private Netzwerke möglich ist, stehen diese Familien unter erheblichem Druck. Soziale Selektivität zeigt sich also darin, dass die Gestaltung der Zeit nach der Geburt stark von den finanziellen und familiären Ressourcen abhängt – sowohl die Möglichkeit zur verlängerten Erwerbspause als auch der berufliche Wiedereinstieg werden dadurch ungleich verteilt.
«direkt»: Wie steht es um die Chancengleichheit der Geschlechter, die in der Bundesverfassung verankert ist?
Meret Lütolf: Das ist ebenfalls ein wichtiger Punkt mit Ausbaupotential: Die aktuelle Regelung geht implizit von einem traditionellen Familienmodell aus, in dem Mütter die unbezahlte Care-Arbeit leisten. Dabei verkennt die Politik, dass sich die Familienmodelle und gegenwärtigen Erwerbsmuster längst geändert haben. Die Mehrheit der Mütter in der Schweiz ist heute erwerbstätig, und insbesondere egalitär-organisierte Familien mit zwei vollzeiterwerbstätigen Elternteilen oder mit Eltern, die beide in Teilzeit arbeiten, haben in den letzten 15 Jahren deutlich zugenommen.
«Elternzeitmodelle, deren Zeitanteile flexibel aufgeteilt werden können, haben kaum eine gleichstellungsfördernde Wirkung.»
«direkt»: Im Parlament haben Bürgerliche vorgeschlagen, die Elternzeitregelungen zu «flexibilisieren». Konkret: Sie wollen diese bei 16 Wochen für beide Elternteile beschränken – flexibel aufteilbar. Für die Mutter soll ein Minimum von acht Wochen Pflicht sein, damit sie sich gesundheitlich von der Geburt erholen kann. Wie beurteilen Sie diesen Ansatz für eine Elternzeit?
Meret Lütolf: Der Begriff «Flexibilisierung» ist in diesem Zusammenhang missverständlich. Was nach mehr Wahlfreiheit für Familien klingt, ist in Wahrheit eine Umverteilung eines ohnehin schon sehr knappen Zeitbudgets: Der andere Elternteil soll mehr Elternzeit erhalten können – allerdings nur, wenn die Mutter im Gegenzug früher in den Beruf zurückkehrt. Das schafft keinen zusätzlichen Spielraum, sondern verlagert die bestehende Zeit zwischen den Eltern. Elternzeitmodelle, deren Zeitanteile flexibel aufgeteilt werden können, haben kaum eine gleichstellungsfördernde Wirkung. Das zeigen internationale Erfahrungen. Nur individuell nicht übertragbare und gut entschädigte Zeitanteile führen dazu, dass Väter tatsächlich mehr Betreuungsverantwortung übernehmen. Solche Regelungen tragen langfristig zur Gleichstellung bei – alles andere bleibt symbolisch.
«direkt»: Kritiker:innen dieser Lösung warnen davor, der Mutterschutz könne so untergraben werden. Teilen Sie diese Meinung?
Meret Lütolf: Ja, es besteht das Risiko, dass die gesundheitlich notwendige Schutzphase der Mutter untergraben wird. Das könnte gegen internationale Vorgaben verstossen. Eine wirksame Elternzeitpolitik muss zusätzliche Zeitressourcen schaffen, ohne den gesundheitlich notwendigen Schutz der Mutter in Frage zu stellen.
«direkt»: Wenn Sie zaubern könnten: Wie würden Sie die perfekte Elternzeit in der Schweiz gestalten, die dann von heute auf morgen eingeführt würde?
Meret Lütolf: Aus wissenschaftlicher Sicht zeigen sich vier zentrale Merkmale für ein wirksames Elternzeitmodell. Erstens: Eine paritätische und individuelle Elternzeit. Beide Elternteile erhalten je sechs Monate bezahlte Elternzeit – zusätzlich zum Mutterschutz. Diese sechs Monate sind nicht übertragbar. Dabei ist entscheidend, dass alle Elternzeit nehmen können, aber niemand sie nehmen muss, um echte Wahlfreiheit in der Familienorganisation zu gewährleisten. Zweitens: Finanzielle Absicherung. Der Lohnersatz beträgt idealerweise 100 Prozent, damit auch Familien mit tiefem Einkommen Zugang zu einer Elternzeit haben. Drittens: Flexibel nutzbar. Die Zeitanteile sollen auch Teilzeit oder gestaffelt und über einen langen Zeitraum hinweg bezogen werden können. Das erlaubt eine bedürfnisgerechte Vereinbarung von Beruf und Familie. Viertens: Koordinierte Massnahmen. Die Elternzeit soll von einem flächendeckenden, qualitativ hochwertigem und bezahlbaren Kinderbetreuungsangebot begleitet werden. Idealerweise gibt es einen gesetzlichen Anspruch auf einen Kita-Platz.