Rudolf Strahm: «Es braucht einen Wohnbau-Kompromiss, damit Mieten die Kaufkraft nicht länger auffressen.»

In seiner ersten Kolumne für «direkt» analysiert der ehemalige Preisüberwacher, SP-Nationalrat und langjährige Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbands die Mietpreis-Misere. Er schlägt einen Wohnbau-Kompromiss vor, um der sinkenden Kaufkraft mit bezahlbaren Mieten und mehr gemeinnützigem Wohnraum entgegenzuwirken.

Foto: A. Boutellier

Die Mietkosten verschlingen im Mittel einen Viertel der Haushaltausgaben. Eine Erhöhung der Mieten, wie sie derzeit ansteht, fällt stärker ins Gewicht als jede andere Ausgabenposition in den Haushalt-Budgets. Sie bringt nicht wenige Mittelstandshaushalte in reale Geldnot.

Breite Mietzins-Erhöhungswelle im Herbst

Erstmals seit Jahren erleben wir nun eine breite Mietzins-Erhöhungswelle. Sie beginnt diesen Herbst und das dicke Ende steht 2024 oder später noch bevor. Die Schweizerische Nationalbank (SNB), die das Zinsniveau steuert, hat dabei eine Schlüsselposition.

Die schrittweise Erhöhung des Leitzinses durch die SNB von -0,75 Prozent auf derzeit +1,75 Prozent innert Jahresfrist erlaubte den Banken eine rasche Anhebung des Hypothekarzinsniveaus, während sie die Sparzinsen der Einleger bisher tief gehalten haben. Deshalb verbuchen sämtliche Inlandbanken in der Schweiz dank den grösseren Zinsmargen massiv gestiegene Gewinne um meist 20 bis 30 Prozent im ersten Halbjahr 2023.

Diese Anhebung des Hypothekarzinsniveaus führt – mit einer Verzögerung – auch zur Erhöhung des mietrechtlichen Referenzzinssatzes auf derzeit 1,5 Prozent. Alle jene Vermieter, die in früheren Jahren die Referenzzinssenkungen an die Mieterinnen weitergegeben hatten – und viele andere dazu – nutzen jetzt die Gelegenheit zu einer kombinierten Mietzinserhöhung, die sich wie folgt zeigt:

Erstens werden für +0,25 Prozent Referenzzinssatz-Erhöhung die Mieten um +3 Prozent angehoben.

Zweitens dürfen bei dieser Gelegenheit 40 Prozent der aufgelaufenen Teuerung zusätzlich auf die Mietenden überwälzt werden.

Und drittens versuchen manche Immobiliengesellschaften zusätzlich weitere 0,5 Prozent einer sogenannten «allgemeinen Kostensteigerung» auf die Mieten zu schlagen, was unfair und mietrechtlich umstritten ist.

Für eine Wohnung mit 2500 Franken Monatsmiete heisst dies jeden Monat 125 Franken mehr Kaufkraftabschöpfung!

Per saldo können die Mieten diesen Herbst also um 5 bis 6 Prozent (oder mehr) erhöht werden, ohne dass dies mietrechtlich verhinderbar ist.Für eine Wohnung mit 2500 Franken Monatsmiete heisst dies jeden Monat 125 Franken mehr Kaufkraftabschöpfung!

Dass diese Mietzinserhöhung wiederum die Teuerung antreibt, wie die Konjunkturforschung KOF-ETH vorrechnet, wird vom (modellfixierten, sozial unsensiblen) SNB-Direktorium ignoriert. Bei der derzeitigen Referenzsatz-Anhebung ist rund die Hälfte aller Mietverhältnisse von Erhöhungen betroffen. Bei der nächsten werden es zwei Drittel sein. Der zum Teil exorbitante Mietaufschlag bei Mieterwechseln, bedingt durch die Wohnungsnot, ist dabei noch nicht eingerechnet.

Hauseigentümerinnen im Angriff – Mieter in der Defensive

In diese Zeit der Mietzinserhöhungen fallen neue Angriffe der Immobilienlobby, allen voran durch den Hauseigentümerverband (HEV), auf das geltende Mietrecht:

  • der gesetzliche Kündigungsschutz soll aufgeweicht werden, zum Beispiel vorerst bei behauptetem Eigengebrauch der Wohnung
  • immer häufiger werden gerichtlich weitere Kostensteigerungen geltend gemacht und damit die Kostenmiete immer mehr ausgehöhlt
  • gleichzeitig bekämpft der HEV weiterhin auch die Besteuerung des Eigenmietwerts.

Der Mieter- und Mieterinnenverband, unterstützt durch die SP und Grünen, reagiert eher defensiv mit einem eigenen (durchaus korrektem) Programm, nämlich

  • mit der kantonalen Einführung der Formularpflicht bei Mieterwechseln zur Offenlegung der Vormiete
  • mit dem Kampf nach allen Richtungen gegen die Aufweichung des Mietrechts, insbesondere auch mit Klageempfehlungen zugunsten von Mietzinsanfechtungen
  • mit der Forderung nach mehr gemeinnützigem Wohnungsbau, die in den Städten von der Stimmbevölkerung stark gestützt wird (in Zürich jüngst mit 66 Prozent Ja-Stimmen für die Aufstockung des Wohnbaufonds)
  • in Basel mit der Unterstützung von Wohnkostenbeiträgen durch die öffentliche Hand.

Doch mit all diesen Aktivitäten können Mieter- und Mieterinnenverband und Linke die Teuerung und die dramatische Wohnungsnot im urbanen Raum nicht verhindern, kurzfristig schon gar nicht.

Strukturelle Teuerungsfaktoren: Die Elefanten im Raum

In der Wohnungswirtschaft stehen einige unbenannte Elefanten im Raum. Ich zähle sie hier auf und weise damit bewusst über den aktuellen Diskurs der Linken hinaus.

Der grösste, oft unbenannte Elefant – das eigentliche Kernproblem – ist die strukturelle Kluft zwischen Angebot und Nachfrage von Wohnungen. Im Jahr 2018 wurden in der Schweiz etwa 50’000 Neuwohnungen gebaut. Seither sinkt die Neubauzahl trotz starkem Bevölkerungswachstum, und sie wird nächstes Jahr auf rund 30’000 fallen, wie die Baugesuche als vorlaufendem Indikator aufzeigen. Das wird sich auswirken!

Sprachregelungen zur Umbenennung oder Verdrängung der Wohnungsnot sind eine Selbsttäuschung. Der oft zitierte Leerwohnungsbestand in einer Momentaufnahme kann täuschen, denn wenn die Mobilität gross ist, ist auch die momentane Leerwohnungsziffer wegen Teilrenovationen höher – trotz Knappheit.

Ein Elefant im Raum – ich benenne das Tabu – ist auch die Zuwanderung und die allgemeine demografische Entwicklung. Hohe Zuwanderung mit gleichzeitig sinkendem Neuwohnungsbau treibt auch die Mieten hoch. Man darf das nicht ausblenden. (Allerdings steht die Mieterseite recht machtlos da: Denn die Zuwanderung aus Europa wird aufgrund der bilateralen Verträge faktisch nur durch den Arbeitsmarkt gesteuert, und die Migration aus Drittstaaten faktisch durch die Gerichtspraxis.)

Ein weiterer Elefant im Raum ist die Bauverzögerung und, als Folge, eine Bauverhinderung, durch Baulandhortung, Einzonungshürden und vor allem Einsprachen. Manchmal kommen die Einsprachen von Ämtern, manchmal von selbsternannten Naturschützer, aber am häufigsten durch andere Hauseigentümerinnen in der Nachbarschaft. So paradox es tönt, die benachbarten Hauseigentümer (und HEV-Mitglieder!) sind wohl zahlenmässig die häufigsten Bauverzögerer mittels Einsprachen.

Ein Tabu unter Linken und beim Mieter- und Mieterinnenverband, der in der deutschen Schweiz von Grünpolitikern beherrscht wird, ist auch die Einzonung von neuem Wohnbau- und Industriebauland. Die Baulandverknappung führt dazu, dass heute die Bodenkosten bei Neubauten 40 bis 50 Prozent ausmachen – in Frankreich 10 bis 15 Prozent! Die fehlenden Bauland-Zonen zwingen im Effekt zu mehr Abrissen zugunsten viel teurerer Neubauten mit höheren Nutzungsziffern. Man pflegt lieber den Weltkrieg-Versorgungs-Mythos mit dem Erhalt von landwirtschaftlichen Fruchtfolgeflächen statt neue Wohnzonen, obschon gut möblierte Wohnquartiere nachweislich eine grössere, reichere biologische Vielfalt aufweisen als etwa die Mais- und Rapsfelder nebenan.

Die grün-rhetorische (Aus-)Flucht nach vorn, man müsse halt mehr verdichtet bauen, ist nicht das Anliegen der Mieterseite: Denn erstens ist verdichtender Renovationsbau in den Städten in der Regel massiv teuer. Und zweitens ist verdichtetes Bauen (Hochhäuser) in Neuquartieren oft familienfeindlich: keine oder zu schmale Grünflächen, ungenügende Kinderspielplätze, fehlende Garagen- oder Abstellplätze für die Kindervelöli, Wägeli, Anhänger, Snowboards und andere Sportgeräte der Familien. Die aktuelle, verdichtete Siedlungsbau-Planung der Städte ist nicht kinder- und familienfreundlich!

Ein Wohnbau-Kompromiss ist gefragt

Die SP kann und müsste ihren Beitrag leisten oder sogar selbst die Initiative ergreifen für mehr Wohnungsbau. Gewiss, in den Städten wie Zürich, Bern und Basel ist beschleunigtes gemeinnütziges Bauen langfristig durchaus wirksam. Eigentlich müssten dort selbst Arbeitgeberinnen und lokale Firmen Interesse an einem preisstabilen und erschwinglichen Wohnungsangebot haben. Doch, wo keine genossenschaftliche Wohnbautradition vorherrscht, stösst die Forderung nach Genossenschaften ins Leere.

Ich könnte mir vorstellen, dass SP und Mieterverband gemeinsam mit moderaten Bürgerlichen, Arbeitgeberkreisen und bauwilligen Immobilienkreisen einen zum Beispiel auf zehn Jahre angelegten Deal für mehr Wohnbau anstreben und abschliessen. Es gibt nicht wenige Immobilienkreise, etwa Pensionskassen, Langfrist-Investoren, Baufirmen, die für einen Wohnbaukompromiss bereit wären. (Der von der SVP-Politik beherrschte HEV wird wohl bei einem solchen Kompromiss der Letzte sein.) Ein solcher Wohnbau-Kompromiss könnte etwa so aussehen:

Die Mieterseite, angeführt durch die SP, überwindet ihre Bauverhinderung und -verzögerung und

  • bietet Hand für die massive Beschränkung der Einsprachen und der Prozesskaskaden
  • akzeptiert Fristengarantieren bei Baugesuchen und Einzonungen, allenfalls vorerst sogar durch notrechtliche Massnahmen (analog zur Energiepolitik)
  • unterstützt dosiert und mit Auflagen auch neue Einzonungen rund um die Städte und Agglomerationen und in den Wachstumsräumen.

Die willigen Immobilienkreise und Bürgerlichen überwinden demgegenüber ihre ideologische Privateigentumsdoktrin beim Wohnungsbau und

  • sie unterstützen die massive Aufstockung von Mitteln des Bundes und der Kantone für den gemeinnützigen und preisgünstigen Wohnungsbau
  • sie akzeptieren ein gesetzliches Vorkaufsrecht der Städte und Kantone für Bauland bei Neueinzonungen oder Zonen-Umnutzungen (gemäss den Forderungen des Städteverbands und der Kantone)
  • sie unterstützen, wo nötig, die örtliche Begrenzung von Zweitwohnungen auch im urbanen Raum.

Quasi als Begleitbedingungen eines solchen Wohnbaukompromisses vereinbaren die beiden Seiten einen mietrechtlichen Status quo, das heisst, das geltende Mietrecht mit den funktionierenden mietrechtlichen Schlichtungsstellen wird beidseits (vorläufig) respektiert, ohne Verschärfung und ohne Aufweichung.

Der Stillstand und die politische Blockade für mehr Wohnungsbau muss überwunden werden. Er wird sich nicht sofort auf die Mieten auswirken. Aber er wird mittelfristig zehntausenden von notleidenden Wohnungssuchenden, Mieterinnen und Mietern Linderung bringen. In der Wohnungswirtschaft rechnet man langfristig, mit Perspektiven von zehn und mehr Jahren. Alles andere ist nicht Mieterpolitik, sondern nur politische Symbolik.

 


Rudolf Strahm, war SP-Nationalrat, und eidgenössischer Preisüberwacher. Er wirkte vier Jahre als Präsident des bernischen und 13 Jahre als Präsident des Schweizerischen Mieterinnen- und Mieterverbandes (Deutschschweiz).

Die Kolumne ist eine «Carte Blanche» und widerspiegelt die Meinung des Autors. 

3 Kommentare

  1. lieber ruedi
    herzlichen dank für deinen artikel. er ist sehr klar und nicht von ideologie, sondern von fakten gefüttert. als mieter einer alterswohnung, die an ein alters- und pflegeheim angegliedert ist, bin ich gespannt, wie sich die mieterhöhungen in diesem sektor niederschlagen. ob sich die allianzen von denen bilden, die du im auge hast?

    herzlichen gruss
    markus friedli

  2. Ich bin etwas erstaunt, dass Strahm die Problematik der Unterbelegung von Wohnraum nicht thematisiert: Es kann in der aktuellen Situation nicht sein, dass der benutzte Wohnraum pro Person in der Schweiz weiter zunimmt und viele grosse Wohnungen und Häuser von Einzelpersonen oder zu zweit genutzt werden.

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