Jascha Harke: «Die Kita-Initiative ist keine Träumerei – sie ist überfällig»

Jascha Harke arbeitet als Fachperson Betreuung in einer Zürcher Tagesschule. In dieser ersten Kolumne erzählt Jascha, wieso die Forderungen der Kita-Initiative längst überfällig sind und warum vor allem Frauen von den heutigen Zuständen in der Kinderbetreuung betroffen sind.

Foto: Unsplash/zvg

Es ist 6:45 Uhr. Der Kaffeeduft hängt über dem Frühstückstisch, irgendwo streitet sich jemand um die letzte Banane. Anna balanciert zwischen Znüniboxen, Zahnbürste und der Frage, wo um Himmels Willen die Gummistiefel sind. Neben dem Tisch liegt ein Briefumschlag, halb aufgerissen: die Kita-Rechnung. 2’340 Franken. Für nur einen Monat. Sie hat gestern Abend nur flüchtig draufgeschaut – heute traut sie sich kaum hinzusehen.


«Anna arbeitet 60 Prozent, ihr Partner 80 Prozent. Und trotzdem reichen ihre Löhne kaum, um die Kita-Rechnung zu begleichen.»


Anna ist meine Arbeitskollegin. Ob es bei ihr morgens wirklich so zu und her geht, sei dahingestellt. Was ich aber sicher weiss: Anna zahlt viel zu viel für die Kita.

Wir arbeiten beide in der Betreuung in einer Tagesschule in Zürich und wissen genau, was gute pädagogische Arbeit bedeutet. Anna liebt ihren Beruf. Mit wie viel Herzblut sie Geschichten erzählt, wie sie Kinder mit ihrer Ruhe erreicht – ich wünschte, man könnte das politisch messbar machen. Aber seit sie Mutter ist, kämpft sie an zwei Fronten. Ihre beiden Kinder sind anderthalb und vier Jahre alt. Anna arbeitet 60 Prozent, ihr Partner 80 Prozent. Und trotzdem reichen ihre Löhne kaum, um die Kita-Rechnung zu begleichen.

Lohnt es sich überhaupt zu arbeiten?

Monat für Monat zahlen sie Tausende Franken für die familienergänzende Kinderbetreuung – fast so viel wie Annas ganzer Nettolohn im Jahr. Sie rechnet oft hin und her: Lohnt es sich überhaupt, dass sie 60 Prozent arbeitet? Oder wäre es «günstiger», zu Hause zu bleiben? Es ist eine absurde Frage – aber leider eine verdammt reale.

Wenn Betreuung aus Kostengründen zur Hürde wird, läuft etwas schief. Anna kümmert sich um fremde Kinder mit Professionalität und Hingabe – aber ihre eigenen muss sie fast «freikaufen», damit sie arbeiten darf. Wer das absurd findet, hat recht. Und wer denkt, das sei ein Einzelfall, liegt leider falsch.


«Sobald beide Elternteile erwerbstätig sind, steigen die Kosten derart, dass sich Arbeit für viele kaum lohnt. Besonders für Frauen.»


Gefahr für die Gleichstellung

Was Anna erlebt, ist kein persönliches Versagen – es ist ein Systemfehler. Die Schweiz gehört zu den Ländern mit den höchsten Betreuungskosten in Europa. In Dänemark oder Frankreich kostet ein Krippenplatz einen Bruchteil davon. Dort trägt der Staat mit, was zur öffentlichen Infrastruktur gehört. In der Schweiz ist Kinderbetreuung weitgehend Privatsache. Wer arbeitet, soll zahlen und wer mehr verdient, zahlt oft mehr.

Was eigentlich fair klingt, wird schnell zur Absurdität: Sobald beide Elternteile erwerbstätig sind, steigen die Kosten derart, dass sich Arbeit für viele kaum lohnt. Besonders für Frauen. Die Folge: Viele reduzieren ihr Pensum – nicht, weil sie wollen, sondern weil sie müssen. Das ist schlecht für die Gleichstellung, es ist schlecht für die Renten der Frauen und es ist schlecht für die Wirtschaft. Auch bildungspolitisch ist es absurd: Während die obligatorische Schule kostenlos ist, muss frühkindliche Bildung teuer erkauft werden – obwohl wir wissen, wie zentral gerade diese ersten Jahre für die Entwicklung der Kinder sind.


«Die Kita-Initiative fordert, dass Kinderbetreuung als das behandelt wird, was sie ist: eine gesellschaftliche Aufgabe.»


Anna und ich machen unseren Job gut. Wir bilden, begleiten, betreuen. Wir wissen, was gute frühkindliche Bildung bedeutet – für die Kinder, für die Eltern, für die Gesellschaft. Aber solange Betreuung als Privatsache gilt, bleibt das System ungerecht. Wer arbeiten will, zahlt drauf. Wer sich die Betreuung nicht leisten kann, bleibt zu Hause. Am Ende sind es meistens die Frauen, die ihre Arbeitszeit reduzieren.

Familienergänzende Kinderbetreuung gehört zum Service public

Genau da setzt die Kita-Initiative an. Sie fordert, dass Kinderbetreuung als das behandelt wird, was sie ist: eine gesellschaftliche Aufgabe. Es geht nicht um ein paar Steuerabzüge oder lokale Subventionen, sondern um einen Systemwechsel. Kinderbetreuung soll öffentlich mitgetragen werden, gleich wie Schulen, Spitäler oder der öffentliche Verkehr. Kitas und Kinderhorte sind Teil der Grundversorgung. Familienergänzende Kinderbetreuung ist die Voraussetzung für Gleichstellung, für eine moderne Gesellschaft, in der Eltern arbeiten können, ohne dass sie sich dafür dumm und dämlich zahlen müssen. Auch für die Chancengleichheit ist sie zentral.

Anna kämpft – nicht nur als Mutter, sondern auch als Fachfrau. Ich auch. Weil wir wissen, dass es anders, nämlich gerechter ginge.  Die Kita-Initiative ist keine Träumerei. Sie ist überfällig. Und sie ist machbar, wenn wir sie gemeinsam tragen. In den Kitas, in den Parlamenten, an der Urne. Und ja: auch im Alltag. Denn da beginnt Veränderung.


Jascha Harke ist Mitglied der Geschäftsleitung der SP Zürich und arbeitet in einer städtischen Tagesschule in der Betreuung. Harke kandidiert im März für den Zürcher Gemeinderat. Im Zentrum stehen die Bildung und Wohnpolitik.

Die Kolumne ist eine «Carte Blanche» und widerspiegelt die Meinung der Autorin.

 


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