Seit einem Jahr protestieren serbische Studierende und weite Teile der Bevölkerung gegen das Vučić-Regime. Die Vorwürfe sind zahlreich: Korruption, Vetternwirtschaft, Einschränkung der Medienfreiheit, Missachtung der Menschenrechte sind nur einige Beispiele. Am 1. November jährt sich der Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad. Studierende aus allen Landesteilen, auch aus mehrheitlich bosniakischen Städten wie Novi Pazar strömen zu Fuss nach Novi Sad. Es wird mit der grössten Demonstration der letzten Monate gerechnet.

Philine Bickhardt unterrichtet und promoviert am Slavischen Seminar in Zürich und begleitet die Protestbewegung journalistisch für mehrere deutschsprachige Medien (Republik, WOZ, Tagesspiegel etc.). Sie hat selbst unter anderem in Belgrad studiert und konnte deshalb an den Plenarsitzungen in der besetzten philologischen Fakultät teilnehmen. «direkt» hat mit ihr über ihre Eindrücke aus einem Jahr im Ausnahmezustand gesprochen.
«direkt»: Seit einem Jahr protestieren insbesondere Studierende in Serbien gegen das Regime von Aleksandar Vučić. Wie ist es dazu gekommen?
Philine Bickhardt: Die Studierenden protestieren infolge des Einsturzes des Bahnhofsvordachs in Novi Sad. Das ist jetzt genau ein Jahr her und steht sinnbildlich für das Regime von Aleksander Vučić und seiner «Fortschrittspartei» SNS. Der Bau des neuen Bahnhofs hat viele Millionen gekostet und es gab mehrfach pompöse Einweihungsfeierlichkeiten. Und dann stürzt am 1. November 2024 das Vordach ein und 16 Menschen verloren dabei ihr Leben. Offensichtlich geht es dabei um Korruption. Aleksander Vučić hat ein pyramidales Abhängigkeitssystem von oben und über das Parteibuch geschaffen. Stellen in staatlichen und öffentlichen Einrichtungen werden primär nach der Parteimitgliedschaftvergeben, über die er die letzten Jahre seine Macht konsolidiert hat. Der Einsturz des Bahnhofsdachs in Novi Sad brachte gewissermassen das Fass zum Überlaufen – seither ist das Land im Ausnahmezustand.
«direkt»: Was fordern die Studierenden?
Philine Bickhardt: Die Forderungen der Studierenden adressierten sich zuerst nicht direkt an Vučić, was eine sehr clevere Entscheidung war. Die Bewegung forderte die lückenlose Aufarbeitung des Vorfalls in Novi Sad, die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen sowie die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit. Nach der Grossdemonstration in Belgrad am 15. März, an der die Polizei mutmasslich Schallkanonen gegen die Protestierenden eingesetzt hat, kam die Forderung nach Aufklärung dieses Vorfalls dazu. Erst im Juni folgte dann schliesslich die heutige zentralste Forderung nach Neuwahlen. Das war das erste Mal, dass sich die Studierenden direkt an Vučić richteten, denn um Neuwahlen durchführen zu können, muss der Präsident laut Verfassung – in dem Falle Vučić – das jetzige Parlament auflösen.
«direkt»: Inwiefern ist es wichtig, dass Vučić nicht direkt adressiert wurde?
Philine Bickhardt: Sie haben Vučić damit auf seine administrativen Funktionen und Verantwortlichkeiten, die er gemäss Verfassung hat, reduziert. Die Forderungen sind so formuliert, dass sich ein sehr grosser Teil der Bevölkerung damit identifizieren konnte – von rechts aussen bis zu linken und ökologischen Bewegungen.
«direkt»: Wie haben sich die Studierenden organisiert?
Philine Bickhardt: Die Studierenden zeigen von Beginn an ein hohes Mass an Organisation und Kreativität. In den besetzten Fakultäten organisierten sie Plena, nach dem basisdemokratischen Prinzip eine Person, eine Stimme. Die Plena waren klar strukturiert. Für unterschiedliche Redebeiträge gab es beispielweise verschiedene Handzeichen. Die einzelnen Plena schicken jeweils eine Vertretung in das «Megaplenum» für die nationale Koordination. Es war faszinierend zu sehen, wie sich die Studierenden aus dem Nichts so konsequent und transparent, prinzipiengeleitet, organisiert haben.
«direkt»: Im vergangenen Juni gab es nochmals eine Grossdemonstration, bei der sich die Rhetorik verändert hat. Können Sie erklären, was da passiert ist?
Philine Bickhardt: Die Demonstration fand am 28. Juni 2025 statt – am sogenannten «Vidovdan» (Veitstag), ein wichtiger Tag in der serbischen Geschichte. Damit wird bis heute ein Gründungsmythos der serbischen Nation erzählt. So waren auch die Reden an der Demonstration stark nationalistisch geprägt. Die Studierenden versuchten Vučić rechts zu überholen, was meiner Meinung nach nicht funktioniert hat.
«direkt»: Was denken Sie, woher kam diese Veränderung in der Rhetorik?
Philine Bickhardt: Den Protestierenden wurde immer wieder vorgeworfen, dass sie keine richtigen Serb:innen sind und sich vom Westen finanzieren liessen. Ich kann mir vorstellen, dass es darum ging mit diesem Vorurteil zu brechen. Warum diese Reden, die auf nationalistische Hetze setzen, von den Plena gutgeheissen wurden, ist einerseits wirklich unklar, denn durch dieses Vorgehen und die Rhetorik haben sich die Studierenden selbst von ihren zentralen Forderungen entfernt. Andererseits sind die Studierenden keine homogene Gruppe, sie bilden auch einen Querschnitt der Bevölkerung, die in weiten Teilen rechtskonservativ ist, dar. Es wird sich nun mit dem Jahrestag von Novi Sad zeigen, ob dies ein «Ausrutscher» war oder ob diese Rhetorik weitergeführt wird. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Studierenden diesen Fehler wahrgenommen haben, auch wenn man sich von einer so breiten und heterogenen Bewegung eine Eindeutigkeit in Geschichtsfragen nur schwer erhoffen kann. Es wird darauf ankommen, dass die Studierenden sich auf ihre Kernforderungen (Rechtsstaatlichkeit, Neuwahlen) konzentrieren. Doch die Protestmärsche durchs Land, die eine hohe Symbolkraft haben, sprechen ihre eigene Sprache: Heute (31.10.2025, anm. d. Red.), während wir sprechen, gehen die Menschen aus allen Landesteilen zu Fuss nach Novi Sad, aus dem östlich gelegenen Vršac, aus dem zentralen Belgrad in einer Kolonne von mehr als 4000 Fussgänger:innen, aus dem nördlich gelegenen Subotica und allen voran aus dem geografisch weitentfernten Novi Pazar im Süden des Landes, das zu 80 Prozent bosniakisch ist. Die mehrheitlich muslimischen Studierenden, die aus Novi Pazar kommen, tragen u.a. die serbische Nationalflagge und vollziehen damit ein Statement: Wir wollen Teil eines multiethnischen Serbiens sein.
«direkt»: Viele progressive osteuropäische Bewegungen äussern sich klar auch pro-europäisch. In Serbien ist dies nicht der Fall. Woran liegt das?
Philine Bickhardt: An den Protesten sind jeweils sehr viele Flaggen zu sehen – EU-Flaggen sind in der Tat selten und wer eine mit sich trägt, muss dies Wohl in Diskussionen erklären. Der Grund dafür: Vučić wurde von der EU jahrelang als der sogenannte «Stabilokrat» gestützt, trotz seiner Angriffe auf die Medienfreiheit und die Menschenrechte. Der ehemalige Bundeskanzler Olaf Scholz hat Vučić für ein Abkommen zur umstrittenen Bergbaumine von Rio Tinto im Jadartal besucht – obschon eine Mehrheit der Serb:innen gegen dieses Projekt ist. Diese Mine entspricht nicht den EU-Umweltstandrads. Diese gelten aber in Serbien so nicht, weil das Land bisher nicht Mitglied ist. Das mutet für viele im Land kolonial an. Das ist der erste Punkt.
«direkt»: Und der zweite Punkt?
Philine Bickhardt: In Serbien ist eine recht grosse Russophilie vorhanden. Immer wieder wird die serbisch-russische Freundschaft heraufbeschworen – nicht nur auf Regierungsebene, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft. Natürlich spielt da auch Desinformation durch die Staatsmedien eine wichtige Rolle.
«direkt»: Vor 25 Jahren haben Protestierende in Belgrad das Regime von Kriegsverbrecher Slobodan Milošević gestürzt. Ist die heutige Lage vergleichbar mit der Situation im Jahr 2000?
Philine Bickhardt: Slobodan Milošević hat sich nach den Nato-Bombardierungen auf Belgrad gute Chancen einberechnet, wieder gewählt zu werden. Diese Rechnung ging aber nicht auf und er hat die Neuwahlen im Oktober 2000 verloren. Heute ist die Situation ähnlich. Auch wenn Vučić kein Kriegsverbrecher ist, regiert er autoritär, mit einem pyramidalen Machtsystem über das Parteibuch. Politische Freiheit und Karriere jenseits des Parteibuchs sind nicht möglich und die Meinungs- und Medienfreiheit ist stark eingeschränkt. Vučić verweigert aber Neuwahlen, weil er weiss, dass er keine Mehrheit mehr erreichen wird. Es ist nun also eine Geduldsprobe – ob schliesslich die Protestbewegung oder das Regime länger durchhalten wird, wird sich zeigen.