«direkt»: Philippe Lazzarini, was können Sie über die aktuelle Versorgungslage im Gazastreifen sagen?
Philippe Lazzarini: Im Moment kommen keine Hilfsgüter in den Gazastreifen hinein, ausser den Paketen der sogenannten «Gaza Humanitarian Foundation», kurz GHF. Daher stehen wir und die anderen Mitglieder der humanitären Gemeinschaft vor grossen Hindernissen. Seit Israel im März den Waffenstillstand gebrochen hat, haben die Behörden humanitäre Lieferungen etwa drei Monate lang komplett verhindert. Die Lebensmittelverteilungszentren und Suppenküchen der UNRWA mussten schliessen. Auch die Versorgung mit Brot ist unterbrochen. In den letzten Monaten hat sich der Hunger im Gazastreifen ausgebreitet. Zudem breiten sich bei Kindern unter fünf Jahren Hirnhautentzündungen aus.
«Die Menschen werden so gezwungen, Dutzende von Kilometern zurückzulegen, um dorthin zu gelangen. Für ältere Menschen, Mütter und Kinder ist das unmöglich.»
«direkt»: Wie steht es um die Sicherheitslage?
Philippe Lazzarini: Auch diese hat sich stark verschlechtert. Jeden Tag werden mehrere Dutzend, wenn nicht sogar über 100 Menschen, infolge der Bombardierungen oder des Beschusses durch die israelische Armee rund um die GHF-Nahrungsmittelverteilungszentren getötet. Darüber hinaus gelangte bis Anfang Juli kein Treibstoff in den Gazastreifen. Nun wurden zum ersten Mal 75’000 Liter geliefert. Treibstoff ist absolut notwendig für Wasserpumpen, Generatoren, um den Betrieb von Krankenhäusern zu ermöglichen, aber auch, um mit Fahrzeugen von einem Hilfszentrum zum anderen zu fahren. Kurz gesagt: Hunger und das Aushungern werden als Kriegswaffe eingesetzt. Wir alle hoffen, dass ein Waffenstillstand zustande kommt. Das ist die einzige Möglichkeit, um mehr, ununterbrochene, würdige und sichere humanitäre Hilfe zu leisten. Um den Waffenstillstand zu festigen, müssen natürlich auch die Geiseln freigelassen werden.
«Die Menschen in Gaza stehen so vor einer unmöglichen Wahl: Entweder aufgrund des vorherrschenden Hungers zu sterben – oder das Risiko einzugehen, getötet zu werden, wenn sie ihr Glück versuchen, ein wenig Nahrung zu bekommen.»
«direkt»: Die GHF wurde von Israel und den USA gegründet, mit dem Ziel, dass die Stiftung die humanitäre Hilfe im Gazastreifen übernimmt. Wie bewerten Sie die Arbeit der GHF?
Philippe Lazzarini: Das Ziel der GHF ist es, die Bevölkerung zu zwingen, sich zu bewegen. Die GHF hat nur vier bis sechs Verteilungsstellen, die meisten im Süden und in der Mitte des Gazastreifens. Die Menschen werden so gezwungen, Dutzende von Kilometern zurückzulegen, um dorthin zu gelangen. Für ältere Menschen, Mütter und Kinder ist das unmöglich.
«direkt»: Kürzlich berichteten israelische Soldaten der Zeitung Haaretz, dass sie den Befehl erhalten hätten, bei der Verteilung humanitärer Hilfe durch die GHF auf unbewaffnete Zivilisten zu schiessen. Was wissen Sie darüber?
Philippe Lazzarini: Diese Verteilungszentren werden von ehemaligen Militärs und Söldnern betrieben und befinden sich in der Nähe von israelischen Militärstellungen. Jeden Tag, wenn Hunderte oder sogar Tausende von Menschen Schlange stehen, endet es in einer Katastrophe, weil bewaffnete Kräfte auf sie schiessen. Die Menschen in Gaza stehen so vor einer unmöglichen Wahl: Entweder zu sterben oder Familienmitglieder aufgrund des vorherrschenden Hungers sterben zu lassen – oder das Risiko einzugehen, getötet zu werden, wenn sie ihr Glück versuchen, ein wenig Nahrung zu bekommen. Die GHF-Zentren sind russische Roulettes, für alle, die sich darauf einlassen müssen. Es ist ein grausames System.
«Es ist eine wahre Katastrophe, die sich direkt vor unseren Augen abspielt. Ich denke, dass die internationale Gemeinschaft bislang viel zu passiv geblieben ist.»
«direkt»: Die rechtsextreme israelische Regierung will in Rafah ein Internierungslager für 600’000 Palästinenser:innen errichten. Premierminister Benjamin Netanyahu spricht sogar offen von einer Deportation. Wie sind diese Pläne zu verstehen?
Philippe Lazzarini: Wenn es tatsächlich so weit kommen sollte und ein solches Internierungslager gebaut wird, wäre das ein neuer monströser Schritt. Wenn das Ziel ist, dass die Bevölkerung aus Gaza deportiert wird, wäre das für die Palästinenser:innen nichts anderes als die zweite Nakba. Nakba steht auf Arabisch für «Katastrophe» und beschreibt die erste Vertreibung der Palästinenser:innen aus ihrem Land im Jahr 1948.
«direkt»: Was erwarten Sie angesichts dieser jüngsten Entwicklungen im Gazastreifen von der internationalen Gemeinschaft?
Philippe Lazzarini: Wir sind mit ständigen und systematischen Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen konfrontiert. Natürlich erwarten wir von den Staaten, dass sie ihren ganzen Einfluss gelten machen, um dem ein Ende zu setzen – sei es politisch, wirtschaftlich, diplomatisch, humanitär. Es ist eine wahre Katastrophe, die sich direkt vor unseren Augen abspielt. Ich denke, dass die internationale Gemeinschaft bislang viel zu passiv geblieben ist. Das Völkerrecht, das auf Regeln basierende System, das wir aus den Lehren des Zweiten Weltkrieg geerbt haben, steht unter Beschuss. Ich erwarte, dass die Länder Europas – einschliesslich der Schweiz – ihre Stimme erheben und sich für dieses System engagieren. Es braucht mehr als nur Worte. Es müssen jetzt wirkungsvolle Massnahmen ergriffen werden. Auf lange Sicht wird die Geschichte Schweigen und Passivität sehr hart beurteilen und dieses mit Komplizenschaft in Verbindung bringen.
«Die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konventionen und hat definitiv mehr Trümpfe in der Hand, die sie ausspielen könnte.»
«direkt»: Was muss die Schweiz jetzt tun?
Philippe Lazzarini: Die offizielle Schweiz kennt ihre Einflusshebel besser als ich. Sie hat eine privilegierte Beziehung zur Region des Nahen Ostens. Die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konventionen und hat definitiv mehr Trümpfe in der Hand, die sie ausspielen könnte.
«direkt»: Kurz nach dem 7. Oktober 2023 hat die Schweiz ihre finanziellen Beiträge an die UNRWA um die Hälfte gekürzt. Mitte-rechts-Politker:innen wollten die Unterstützung sogar ganz streichen. In einer parlamentarischen Motion warfen sie der UNRWA vor, «von Hamas-Sympathisanten unterwandert» zu sein. Wie erklären Sie sich diese Angriffe auf eine Organisation der UNO?
Philippe Lazzarini: Man darf nicht vergessen, dass die Beseitigung der UNRWA ein erklärtes Ziel der israelischen Regierung in diesem Krieg ist. Sie verheimlicht das nicht einmal. Das israelische Parlament hat zwei sogenannte Anti-UNRWA-Gesetze verabschiedet. Das Ziel: Das Hilfswerk soll seine Aktivitäten in den besetzen Gebieten einstellen müssen. Dabei geht es auch darum, den Palästinenser:innen ein für alle Mal den Flüchtlingsstatus zu entziehen. Damit soll auch die politische Frage des Rückkehrrechts ein für alle Mal geklärt werden – das internationale Recht, das garantiert, dass geflüchtete Palästinenser:innen in ihr Heimatland zurückkehren können. Verlieren die Palästinenser:nnen ihren Flüchtlingsstatus, verlieren sie auch dieses Recht. Ich erinnere daran: Selbst, wenn die UNRWA ihre Aktivitäten im Bereich Bildung oder medizinische Grundversorgung einstellen sollte, wird der Flüchtlingsstatus weiterhin von einer Generation an die nächste weitergegeben – solange, bis es eine dauerhafte politische Lösung gibt.
«direkt»: Und was sagen Sie zu den Vorwürfen, dass die UNRWA mit der Hamas verbandelt sei?
Philippe Lazzarini: Eine Reihe von Angestellten wurde beschuldigt, an den schrecklichen Angriffen vom 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein. Wir haben die Vorwürfe ernst genommen und eine Untersuchung eingeleitet. Die israelischen Behörden haben kooperiert und die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden im Juli 2024 veröffentlicht. Nun stehen wieder neue Anschuldigungen im Raum. Bis heute und trotz unserer wiederholten Anfragen an die israelische Regierung – zuletzt vor zwei Monaten, als ich einen Brief schrieb, in dem ich alle unsere Anfragen an den Aussenminister zusammenfasste – haben wir nie mehr Informationen oder Beweise erhalten, die diese Anschuldigungen stützen.
«direkt»: Warum ist es notwendig, dass die israelische Regierung mit dem UNRWA zusammenarbeitet?
Philippe Lazzarini: Als Agentur für humanitäre Entwicklungszusammenarbeit sind wir auf die Behörden vor Ort angewiesen, wenn es um geheimdienstliche Untersuchungen geht. Wenn die israelischen oder palästinensischen Behörden aber nur Behauptungen aufstellen, ohne Beweise vorzulegen, können wir keine Massnahmen ergreifen. Abgesehen davon teilen wir seit über 20 Jahren unsere Mitarbeiter:innenlisten mit der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde. Bis auf ein oder zwei Ausnahmen wurden uns in dieser Zeit nie Bedenken rückgemeldet.