Die Schweiz und die Europäische Union sind es gewohnt, Abkommen und Verträge untereinander abzuschliessen. Nun liegen neue Verträge, die Bilateralen III, auf dem Tisch. Der genaue Inhalt ist noch nicht öffentlich, weil er vor der Vernehmlassung in einen Gesetzestext übersetzt werden muss.
Seit der Gründung der EU regeln 20 bilaterale Verträge und über 100 Abkommen die Beziehung der Schweiz zur EU. In den Diskussionen rund um die Bilateralen geht oft vergessen, dass diese eng mit sozialen Fortschritten verbunden sind. Mindestlöhne, Lohnschutz, Reisen ohne Grenzkontrolle, Mobilität für Studierende: Ohne Bilaterale wären diese Massnahmen undenkbar – und ohne diese Massnahmen gäbe es die Bilateralen nicht.
Gegen Dumpinglöhne und Schwarzarbeit: Die flankierenden Massnahmen
Zwischen 1994 und 1999 verhandelten die Schweiz und die EU die Bilateralen I. Das Paket beinhaltete sieben Abkommen zu verschiedenen Sektoren – je eins für beispielsweise die Forschung, den Landverkehr oder die Landwirtschaft.
Auch im Paket enthalten: die Personenfreizügigkeit. Die Gewerkschaften befürchteten damals, dass diese zu Dumping-Löhnen, schlechteren Arbeitsbedingungen und Schwarzarbeit führen würde. Deswegen forderten sie inländische Massnahmen, die Mindeststandards für Arbeiter:innen in der Schweiz vorschreiben. Schon früh führten daher Bundesrat, Arbeitgeberverband und Gewerkschaftsbund Gespräche, um flankierende Massnahmen auszuhandeln.
Diese Gespräche wurden damals aufgrund von Dissens jedoch abgebrochen. Der Bundesrat musste darum dem Parlament eigene Vorschläge unterbreiten. Umstritten war unter anderem die Definition von Lohndumping. Der Ständerat stimmte in diesem Punkt zuerst gegen die Gewerkschaften, schloss sich am Ende aber den arbeiter:innenfreundlicheren Kompromissen des Nationalrats an.
Für einen starken Lohnschutz setzten sich vor allem Parlamentsmitglieder aus Grenzkantonen ein: so etwa die Gewerkschafter und SP-Nationalräte Jean-Claude Rennwald aus dem Jura und Paul Rechsteiner aus St. Gallen. Damals konnten die Sozialdemokrat:innen und Grünen in diesen Fragen zudem auf die Unterstützung der Christdemokrat:innen sowie der Liberalen zählen.
«Dank den gewerkschaftlich erkämpften FlaM (sind die Löhne und die Arbeitsbedingungen heute in der Schweiz besser geschützt als früher», schreibt der Schweizerische Gewerkschaftsbund rückblickend. Denn: Die flankierenden Massnahmen ermöglichen jährliche, systematische Lohnkontrollen. Diese Kontrollen halfen und helfen, Missbräuche aufzudecken und Lohnerhöhungen zu ermöglichen.
Kommt es zu Lohndumping, können seither zudem Mindestlöhne einfacher eingeführt werden: Die Mindestlohnbestimmungen in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) können für allgemeinverbindlich erklärt werden. Und Branchen ohne GAV können sogenannte Normalarbeitsverträge erlassen, die einen Mindestlohn festlegen.
Das Referendum gegen die Bilateralen II
Nur wenige Jahre später verhandelte der Bundesrat erneut mit der EU: 2004 unterzeichnete die Schweiz das Vertragspaket der Bilateralen II. Teil davon war das Schengen/Dublin-Abkommen, das die Zusammenarbeit mit der EU in den Bereichen Asyl und Sicherheit vertiefte. Die Bilateralen II umfassten zudem auch Verträge in den Bereichen Tourismus und Steuerhinterziehung.
Gegen das Schengen/Dublin-Abkommen ergriff die SVP das Referendum. Die Bevölkerung sagte 2005 Ja. Obwohl das Abkommen bei den Linken umstritten war, empfahl die SP damals die Ja-Parole. Die Begründung: Die Schweiz könne sich in Europa nicht isolieren. Zudem gingen progressive Kräfte davon aus, dass eine europäische Zusammenarbeit der repressiven Asylpolitik in der Schweiz entgegengewirken könnte. Zweifelsohne war das ein paar Jahre lang der Fall.
Auch dieses Vertragspaket regelt eine heute als selbstverständliche verstandene Errungenschaft: Die Bewegungsfreiheit innerhalb Europas, sei es als Tourist:in, als Forscher:in oder als Student:in.
In einem vom Departement für auswärtige Angelegenheiten verfassten Bericht über den volkswirtschaftlichen Nutzen von Schengen/Dublin, das ein Postulat der SP-Fraktion erfüllt, steht: « Die Vorteile von Schengen/Dublin gehen über rein monetäre Aspekte hinaus.»
Den Erfolgsweg weiter gehen
Und heute? Während der Neofaschismus an die Türen Europas klopft, zeigt der Blick in die Vergangenheit: Die EU wurde schon vor zwanzig Jahren als die verlässlichste Partnerin der Schweiz betrachtet. Schon damals wählte die Schweiz Öffnung statt Abschottung.
Gerade beim Lohnschutz verspricht das Paket der Bilateralen III eine Weiterführung des sozialverträglichen Wegs. Die Frage ist nun, ob FDP und Mitte sich zu diesem Paket bekennen, oder ob es in der parlamentarischen Beratung verwässert wird. Mit den Bilateralen III kann die Erfolgsgeschichte weitergehen – aber Chancen hat ein solches Vorhaben in der Regel nur, wenn es mit sozialem Fortschritt einhergeht.