«Es braucht ein Grundbekenntnis der Politik für eine Schweiz ohne Armut.»

In der Schweiz leben über 700'000 Menschen in Armut, Tendenz steigend. «direkt» hat mit Andreas Lustenberger, Mitglied der Geschäftsleitung von Caritas Schweiz, über die Gründe und mögliche Massnahmen zur Armutsbekämpfung gesprochen.

Andreas Lustenberger, Geschäftsleitungsmitglied Caritas Schweiz

Herr Lustenberger, die Armutszahlen in der Schweiz sind gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) auf einem neuen Höchststand. Weshalb?

Lustenberger: Die Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen zur Verfügung haben, und den steigenden Ausgaben wächst. Die Armutsgrenze ist recht simpel: Die Menschen haben weniger zur Verfügung als das, was sie bräuchten, um das Leben in der Schweiz zu meistern.

Die sinkende Kaufkraft steigert also das Armutsrisiko?

Lustenberger: Genau, weil die Lebenshaltungskosten teurer werden und steigende Fixkosten nicht mehr abgedeckt werden können. Einerseits sind die Löhne zu tief, andererseits reichen Unterstützungsleistungen wie die Sozialhilfe oder die Prämienverbilligungen nicht aus. Das BFS orientiert sich bei der Armutsgrenze am Existenzminimum der Sozialhilfe. Die Armutsgrenze liegt für das statistisch relevante Jahr 2021 bei 2289 Franken für eine Einzelperson.

Auch 134’000 Kinder sind in der Schweiz von Armut betroffen. Was bedeutet Armut für die Chancengerechtigkeit?

Lustenberger: Armut bedeutet per se viel weniger Chancen im Leben. Kinder, die in Armut aufwachsen, können bereits vor der obligatorischen Schulzeit weniger Bildungsangebote wahrnehmen. Gemäss wissenschaftlichen Studien ist es für Kinder elementar, an Kursen wie Eltern-Kind-Turnen oder der Spielgruppe teilzunehmen. Aber wenn diese Angebote kosten, werden sie schnell aufgrund des tiefen Budgets gestrichen. Gleiches gilt für Schwimmunterricht, Musikstunden etc. Die Studien belegen auch, dass der Wissensrückstand der Kinder vor dem Schuleintritt geschieht. Viele Kinder kommen bereits mit einem Rucksack in die Schule, den sie kaum mehr ablegen können.

Auch die Altersarmut ist immer wieder ein Thema.

Lustenberger: Altersarmut ist Frauenarmut. Es ist nach wie vor frappant, wie viele Frauen keine Pensionskasse haben. Die jüngst verabschiedete Pensionskassen-Reform verbessert die Rentensituation für die meisten Frauen mit tieferen Einkommen kaum. Sie werden im Erwerbsalter mehr vom Lohn abgeben müssen und sind im Alter sowieso auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Was Gleichstellung und Chancengerechtigkeit angeht, sind wir meilenweit im Rückstand. Der Grossteil der unbezahlten Arbeit wird immer noch von Frauen geleistet. Sie reduzieren dafür vielfach ihre Pensen und haben entsprechend tiefe Einkommen und im Alter schlechte Renten. Bezahlbare und bedarfsgerechte familienergänzende Kinderbetreuung könnte hier Abhilfe schaffen.

Sie sind bei Caritas Schweiz Leiter für den Bereich Grundlagen und Politik. Was sind für Caritas die grössten Herausforderungen im Bereich der Armutsbekämpfung?

Lustenberger: Alle Personen, die unter der definierten Armutsgrenze leben, haben Anrecht auf Unterstützung – sprich Sozialhilfe. Mit den Armutszahlen wird auch die Armutsgefährdung erhoben. Da beobachten wir ebenfalls eine starke Zunahme.

Im Nachgang der Pandemie ging die Teuerung durch die Decke. Immer mehr Menschen geraten dadurch in Bedrängnis. Diese sind jedoch gemäss Statistik weder gefährdet noch leben sie unter der Armutsgrenze. Denn die Grenze ist zu tief angesetzt. Für diese Menschen gibt es heute kaum staatliche Unterstützung.

Das beschäftigt uns sehr stark. Familien mit kleinen Kindern, die 5000 bis 6000 Franken im Monat zur Verfügung haben, können ihre Fixkosten nicht mehr stemmen. Diese Menschen wenden sich verstärkt an uns. Auch bei den Caritas-Märkten erleben wir eine starke Zunahme.

Mit welchen politischen Massnahmen kann man diese Menschen entlasten?

Lustenberger: Bei dieser neuen gefährdeten Gruppe ist es ganz wichtig, rasch und unbürokratisch Unterstützungsmassnahmen zu beschliessen, die schnell greifen. Denn wir befürchten eine frappante Zunahme an armutsbetroffenen Personen. Die Krise ist dreifach: Krankenkassen-Prämien, Grundnahrungsmittel und Mietpreise. Es ist nicht erst seit gestern bekannt, dass die Krankenkassen-Prämien steigen – und weitersteigen werden. Dieser erschütternde Anstieg wirkt sich extrem auf das Budget aus. Genau dort hätten wir aber das passende Mittel zur Entlastung: Die Prämienverbilligung.

Die Kantone schreiben schwarze Zahlen. Dennoch wurden die kantonalen Prämienverbilligungen nicht gleich stark angehoben, wie die Prämien gestiegen sind. Diese Diskrepanz wird immer grösser. Es ist daher sehr wichtig, dass sich das Parlament auf einen guten Gegenvorschlag zur Prämien-Entlastungs-Initiative der SP einigt.

Zum zweiten Punkt: Es ist nicht einfach, die Teuerung auf den Grundnahrungsmitteln abzufedern. Bei einem kleinen Budget ist der Anteil für die Essensausgaben fast doppelt so hoch wie für Personen mit einem durchschnittlichen Budget. Preissteigerungen haben dort also eine doppelt so starke Wirkung. Und zu den Wohn- und Energiekosten: Dort ist es Aufgabe der Politik, sicherzustellen, dass alle eine bezahlbare Wohnung haben. Doch von diesem Punkt sind wir leider noch weit entfernt.

Welche Massnahmen braucht es aus Ihrer Sicht, um die Armut in der Schweiz konkret zu bekämpfen – also jene Menschen zu entlasten, die bereits unter der definierten Armutsgrenze leben?

Lustenberger: Eine Existenzsicherung für alle, die nicht über ausreichende Einkünfte verfügen. Diese soll über eine Kasse abgewickelt werden, denn heutzutage erleben Armutsbetroffene oft einen Spiessroutenlauf von Amt zu Amt. Das führt dazu, dass sie den Glauben an eine Verbesserung verlieren. Bei den Unterstützungsmassnahmen gibt es heutzutage zudem ein markantes Problem: Viele Menschen suchen keine Hilfe, weil sie sich schämen oder Angst haben vor ausländerrechtlichen Konsequenzen wegen dem fehlenden Schweizer Pass. Nicht zu unterschätzen sind auch die negativen Auswirkungen auf die Psyche. Caritas und das Denknetz fordern deshalb eine Existenzsicherung für alle. Ergänzungsleistungen, die aus einer für alle zugänglichen Kasse kommen. Wer unter dem Existenzminimum liegt, wird darüber gehoben. Wobei das Existenzminimum höher gelegt werden soll, als es heute definiert ist.

Mindestlöhne erhalten immer mehr Unterstützung in der Bevölkerung. Nach Zürich und Winterthur wollen andere Städte wie Bern, Biel und Schaffhausen nachziehen. Sehen Sie in Mindestlöhnen ein geeignetes Mittel zur Armutsbekämpfung?

Lustenberger: Ja, absolut. Sie sind ein wichtiges Mittel, um die Armut zu bekämpfen. Sie werden auf einem Niveau sein, wo das Budget immer noch eng sein wird. Aber sie werden für einen beträchtlichen Anteil der betroffenen Personen einen grossen Unterschied machen. Es sollte selbstverständlich sein, dass Arbeit anständig bezahlt wird.

Insbesondere auch in Berufen, wo viele Frauen und Personen mit Migrationshintergrund arbeiten, sind die Löhne zu tief. Hier können Mindestlöhne auf Gemeinde- oder Kantonsebene, aber auch im Gesamtarbeitsvertrag einen grossen Unterschied für die Armutsgefährdung machen.

Eine Schweiz ohne Armut scheint aufgrund der steigenden Zahlen weit weg zu sein. Was muss geschehen, um das Ziel zu erreichen?

Lustenberger: Es braucht ein politisches Grundbekenntnis. In der Realpolitik ist noch nicht angekommen, was so eine steigende Ungleichheit mit einer Bevölkerung macht und welche Auswirkungen dies haben kann. Was dies für unsere Demokratie und inklusive Gesellschaft und deren Zusammenhalt bedeutet. Jede fünfte Person kann keine ausserplanmässige Ausgabe von 2500 Franken begleichen – sie haben kein Erspartes anlegen können. Auf der anderen Seite sehen wir Menschen, die ihr Vermögen konstant steigern.

Ein Grundbekenntnis der Politik, dass wir eine Schweiz ohne Armut wollen und die Mittel dazu bereitgestellt werden. Armutsbekämpfung ist kompliziert, mehrdimensional und spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab. Es braucht eine nationale Armutsstrategie.

Es gibt einen hängigen SP-Vorstoss, der eine solche Strategie fordert. Wir kennen das Problem sehr genau und wissen, wo der Schuh drückt. In der Bundesverfassung verlangen mehrere Artikel eine Schweiz ohne Armut. Auch in der UNO-Agenda 2030 hat sich die Schweiz dazu bekannt, die Armut um mindestens die Hälfte zu reduzieren. Letztere steigt trotzdem immer weiter. Die Schweiz erfüllt ihre eigenen Versprechen bei weitem nicht, wenn es um die Bekämpfung der Armut geht.

Zum Schluss: Wenn Sie morgen eine Massnahme zur Bekämpfung der Armut umsetzen könnten, welche wäre es?

Lustenberger: Mit dem realpolitischen Hut: die Erhöhung der Prämienverbilligung. Sowohl im Umfang der Unterstützung als auch der Erweiterung des Personenkreises.

Und wenn Sie den realpolitischen Hut ablegen?

Lustenberger: Eine Existenzsicherung für alle. Denn alle verdienen ein Leben in Würde.

Weitere Artikel zum Thema:

2 Kommentare

  1. Ist ein Paar verheiratet, kann man nicht von unbezahlter Arbeit sprechen. Der erwirtschaftete Lohn beider Partner gehört zu beiden Teilen beiden…

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein