Frau Masé, spüren Sie bei Caritas den steilen Anstieg der Krankenkassenprämien und die steigenden Preise?
Masé: Ja, denn Caritas ist ein Frühwarnsystem für gesellschaftliche Entwicklungen. Den Druck auf die Kaufkraft sehen wir konkret an zwei Orten: Beim Caritas Markt und bei der Sozial- und Schuldenberatung. 2023 haben wir über 30 Prozent mehr Einkäufe in den Caritas Märkten verzeichnet als noch 2021. Was auch auffällig ist: Die Menschen kaufen mehr Grundnahrungsmittel, während der Umsatz zum Beispiel bei Süssigkeiten zurückgegangen ist.
«Besonders alarmierend ist, dass viele Menschen auf notwendige medizinische Leistungen verzichten, weil sie diese nicht mehr bezahlen können. Notwendige Operationen werden hinausgezögert oder es wird auf Hilfsmittel wie Brillen verzichtet.»
Und wie äussert sich diese Entwicklung bei der Sozial- und Schuldenberatung?
Masé: Viele haben ihre letzten kleinen Reserven aufgebraucht. Keine Reserven zu haben bedeutet, dass bereits Mehrausgaben von hundert Franken ein grosses Problem darstellen. Und hier sind die Krankenkassen-Prämien das grösste Problem. Die meisten Betroffenen haben bereits die höchste Franchise, um Prämien zu sparen. Oft auch dann, wenn sie gesundheitlich angeschlagen sind und wissen, dass sie bei notwendigen Behandlungen die Rechnungen nicht bezahlen können. Besonders alarmierend ist, dass deshalb viele Menschen auf notwendige medizinische Leistungen verzichten. Wir sprechen hier von Operationen, die hinausgezögert werden, bis die Schmerzen und Beschwerden nicht mehr auszuhalten sind. Oder es wird auf Hilfsmittel wie Brillen verzichtet.
Nimmt die Verschuldung dadurch zu?
Masé: Bei vielen reicht das Geld am Ende des Monats nicht mal mehr für die Lebensmittel. Sie bezahlen ihre Einkäufe dann mit der Kreditkarte und sind gefährdet in eine Schuldenspirale zu kommen. Die zwei grössten Budgetposten sind dabei die Krankenkassen-Prämien und – nicht überraschend – die Mieten.
Die Entlastung durch Prämienverbilligung unterscheidet sich ja von Kanton zu Kanton. Machen sich diese Unterschiede bemerkbar?
Masé: Wenn wir uns das Monitoring zu den Prämienverbilligungen des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) anschauen, sehen wir das exemplarisch: Eine Modell-Familie mit zwei Kindern hatte im Jahr 2020 bei gleichem Einkommen bspw. im Kanton Neuenburg nach Abzug der Prämienverbilligungen eine Restbelastung von 21 Prozent des verfügbaren Einkommens, im Kanton Zug von lediglich 6 Prozent. Das sind massive Unterschiede. Aus Sicht dieser Familie kann dies bedeuten, dass sie sich massiv verschulden oder dass sie ein paar hundert Franken auf die Seite legen können.
Im Juni stimmen wir über die Prämien-Entlastungs-Initiative ab. Kann diese Initiative, welche die Prämien bei 10 Prozent des verfügbaren Einkommens deckeln will, eine Entlastung bringen?
Masé: Absolut, denn unsere Erfahrungen zeigen, dass die Krankenkassen-Prämien für Haushalte mit tiefen Einkommen das grösste Problem darstellen. Wobei 10 Prozent je nach Situation immer noch sehr viel sind. Neben der direkten finanziellen Entlastung ist auch wichtig, dass die Betroffenen budgetieren können für die nächsten Jahre. Wenn klar ist, dass die Prämien nicht mehr als 10 Prozent des verfügbaren Einkommens betragen, können sie planen.
«Diese Initiative ist eine der wichtigsten sozialpolitischen Entscheidungen seit langem.»
Das Allerschlimmste ist, wenn sie nicht vorhersehen können, was für eine Ausgabe kommt. Das ist bei den Prämien sehr schwierig. Wir wissen, dass sie jedes Jahr steigen, aber nicht um wie viel. Diese Initiative ist für mich eine der wichtigsten sozialpolitischen Entscheidungen seit langer Zeit. Denn wir wissen bereits heute: Die Prämien werden weiter steigen.
Welche weiteren Massnahmen braucht es?
Masé: Neben der Deckelung der Prämien braucht es verschiedene Massnahmen, um den finanziellen Handlungsspielraum jener Menschen zu erhöhen, die jeden Franken umdrehen müssen. Der finanzielle Handlungsspielraum ist die Grundlage dafür, dass diese Menschen eine Perspektive haben und etwas an ihrer eigenen Situation ändern können. Es braucht deshalb existenzsichernde Löhne und Arbeitsbedingungen, aber auch echte Bildungschancen mit Aus- oder Weiterbildung. Auch die Leistungen aus den Sozialversicherungen müssen existenzsichernd sein. Für viele Tieflohnbetroffene reichen 80 Prozent des Gehalts bei der Arbeitslosenversicherung nicht. Ebenfalls zu tief sind die Sozialhilfe und natürlich die noch tiefere Asylsozialhilfe, die kaum zum Leben reichen.
«Der finanzielle Handlungsspielraum ist die Grundlage dafür, dass diese Menschen eine Perspektive haben und etwas an ihrer eigenen Situation ändern können.»
Und auf der Ausgabenseite?
Masé: Auf der Ausgabenseite sind bezahlbare Kita-Plätze zentral. Denn heute erleben wir oftmals, dass Mütter zuhause bleiben, weil die Kita-Kosten zu hoch sind. Damit fehlt dieser Familie ein Einkommen. Neben den Prämien sind die Mieten der höchste Kostentreiber. Bund, Kantone und Gemeinden müssen dringend den Erhalt und die Schaffung von mehr bezahlbarem Wohnraum fördern.
«Gerade in der Pandemie haben auch Menschen aus der Mittelklasse gemerkt, dass es schnell abwärts gehen kann, wenn die Rahmenbedingungen schwieriger werden.»
In der Schweiz ist mehr als jede sechste Person von Armut bedroht. Sie haben jetzt viele mögliche Massnahmen aufgezählt. Wie erklären Sie sich, dass die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt, nicht mehr tut, um seine Bevölkerung vor Armut zu schützen?
Masé: Armut war lange ein Tabuthema. Das Thema kam erst in den letzten zehn Jahren, und vor allem auch mit der Covid-Pandemie, wieder vermehrt auf die Bildfläche. Gerade in der Pandemie haben auch Menschen aus der Mittelklasse gemerkt, dass es schnell abwärts gehen kann, wenn die Rahmenbedingungen schwieriger werden. Doch wenn ich Vorträge halte, sind immer noch viele Menschen vom Ausmass der Armut in der Schweiz überrascht. Denn Armut ist in der Schweiz weniger sichtbar, den meisten Armutsbetroffenen sehen wir es nicht an. Sie schämen sich und versuchen ihre finanzielle Situation zu verstecken. Das hängt damit zusammen, dass einige Stimmen den Betroffenen die Schuld für ihre eigene Situation geben. Glücklicherweise sind diese Stimmen etwas leiser geworden.
«Armutsbetroffene haben keine grosse Lobby.»
Armut ist zudem ein Querschnittsthema. Es betrifft viele Politikbereiche und alle Staatsebenen. Das macht eine koordinierte Politik sehr schwierig. Deshalb fordern wir seit langem eine gesamtschweizerische Armutsstrategie mit verbindlichen Zielen. Schliesslich ist es auch eine Frage der politischen Prioritätensetzung: Armutsbetroffene haben keine grosse Lobby. Und sie haben auch keine Ressourcen, um sich bemerkbar zu machen, denn wer sich in einem ständigen Existenzkampf befindet, kann sich nicht wehren.
Wir müssen die KOSTEN bekämpfen nicht die Prämien. Prämien zu deckeln löst das Problem nicht. Viel mehr dürfte es die Kosten weiter in die Höhe treiben…
Ständige Existenzängste machen Albträume und krank.
Über gesundheitliche Fragen spricht man allgemein meist nur mit einem gut vertrauten Mitmenschen – dies auch wenn man von Verwandten und Bekannten direkt darauf das persönliche Befinden angesprochen wird. Ausweichende bis alles OK sind zu oft landläufige Antworten, denn man will nicht als „Jammeri“ aus dem Gespräch hervorgehen. Über persönliche, finanzielle Probleme zu reden, hat eine noch bedeutend höhere Vertauens-Hürde. Wenn nun die KK-Prämienen zu sehr aufs Hauhaltbudget drücken oder sogar medizinische Leistungen wegen finanziellen Engpässen nicht in Anspruch genommen werden können – so ist ein stillschweigen die Regel – mit Dulden eines zunehmenden menschlichen Desaster. Das kann und darf es in einer zukunftsausgerichteter, demokratischer Schweiz nicht sein. Die „Prämien-Entlastungs-Inititative“ kann solche menschliche Tragödien vermindern und gleichzeitig aber die verzwickten und zu oft unschönen finanziellen Abläufe zwischen Prämienzahlenden-Krankenkassen-Spitäler-Ärzteschaft-Patient zumindest grundsätzlich zu Anpassungen bewegen.
Über gesundheitliche Fragen spricht man allgemein meist nur mit einem gut vertrauten Mitmenschen – dies auch wenn man von Verwandten und Bekannten direkt darauf das persönliche Befinden angesprochen wird. Ausweichende bis alles OK sind zu oft landläufige Antworten, denn man will nicht als „Jammeri“ aus dem Gespräch hervorgehen. Über persönliche, finanzielle Probleme zu reden, hat eine noch bedeutend höhere Vertrauens-Hürde. Wenn nun die KK-Prämienen zu sehr aufs Hauhaltbudget drücken oder sogar medizinische Leistungen wegen finanziellen Engpässen nicht in Anspruch genommen werden können – so ist ein stillschweigen die Regel – mit Dulden eines zunehmenden menschlichen Desaster. Das kann und darf es in einer zukunftsausgerichteter, demokratischer Schweiz nicht sein. Die „Prämien-Entlastungs-Inititative“ kann solche menschliche Tragödien vermindern und gleichzeitig aber die verzwickten und zu oft unschönen finanziellen Abläufe zwischen Prämienzahlenden-Krankenkassen-Spitäler-Ärzteschaft-Patient zumindest grundsätzlich zu Anpassungen bewegen.
Die Kantone sind zu verpflichten, alle anzuschreiben, die ein Recht auf Ergänzungsleistungen und Prämienverbilligungen haben und die Fragebögen beizulegen und Auskunftsstellen zu schaffen. Das lässt sich leicht handhaben nach Einreichung der Steuererklärungen. Warum kann das der Kanton Jura und andere Kantone nicht. Es fehlt wie so oft am politischen Willen.
Und zur Prämienentlastungsinitiative: Warum sollte der ganzen Schweiz ein Systen nicht gut anstehen, das im Kanton Waadt bereits seit 5 Jahren im Betrieb ist und mit dem gute Erahrungen gemacht wurden ?