Herr Siegenthaler, Bürgerliche Politiker sagen seit jeher, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze gefährden. Was sagt die Wissenschaft zum Effekt von Mindestlöhnen auf den Arbeitsmarkt?
Michael Siegenthaler: Das Thema ist mittlerweile eine der am besten untersuchten Fragen in der Wirtschaftsforschung. Der letztjährige Gewinner des Wirtschaftsnobelpreises, David Card, hat auch in diesem Bereich geforscht und mit seiner Studie, die anfangs der 1990er-Jahre erschienen ist, an diesem «Mantra» gerüttelt. Seine Arbeit hat dazu geführt, dass nicht mehr einfach an die damals dominante Theorie geglaubt wurde, sondern begonnen wurde die Fakten und Zahlen anzuschauen. Mittlerweile gibt es hunderte Studien zu den Beschäftigungseffekten von Mindestlöhnen in verschiedenen Kontexten. Die überwiegende Mehrheit der Forschenden ist sich einig, dass Mindestlöhne keine Jobkiller sind. Die Angst vor Mindestlöhnen in diesem Bereich ist unbegründet. Allerdings muss man sagen, dass die Höhe der Mindestlöhne entscheidend ist.
«Mittlerweile gibt es hunderte Studien zu den Beschäftigungseffekten von Mindestlöhnen in verschiedenen Kontexten. die überwiegende Mehrheit der Forschenden ist sich einig, dass Mindestlöhne keine Jobkiller sind.»
In der Schweiz sprechen wir von Mindestlöhnen in der Höhe von maximal 23 Franken.
Michael Siegenthaler: Das sind moderate Mindestlöhne für die Schweiz. Die Forschung spricht von hohen Mindestlöhnen, wenn diese vielleicht bei zwei Dritteln oder mehr des Medianlohns liegen würden. Das würde schweizweit rund 26 Franken entsprechen. In der Stadt Zürich mit einem Medianlohn von über 7’800 Franken sogar um die 30 Franken.
Kantonale Mindestlöhne sind in der Schweiz relativ neu. Gibt es dazu auch schon Forschungsergebnisse?
Michael Siegenthaler: Mir sind zwei Studien zum Mindestlohn in Neuenburg bekannt. Die Ergebnisse reihen sich in die bisherige Forschung ein. Auch in Neuenburg werden keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gefunden.
Und was passiert mit den Löhnen?
Michael Siegenthaler: Die Mindestlöhne tun das, was man erwarten würde. Am unteren Ende bewirken sie einen Anstieg der Löhne. Die Forschung zeigt auch, dass die Umsetzung recht gut funktioniert. Die Menschen erhalten einen höheren Lohn und verlieren ihre Stelle nicht.
Haben Mindestlöhne sonst noch Effekte auf das Lohngefüge?
Michael Siegenthaler: Es gibt Forscher:innen die positive Effekte auf Löhne gefunden haben, die 20 Prozent über dem Mindestlohn liegen. Andere finden diese Effekte nur bei Löhnen, die ganz leicht über dem Mindestlohn liegen. Unabhängig davon zeigt sich aber, dass die Lohnungleichheit abnimmt. Gleichzeitig sind die höheren Löhne nicht betroffen vom Mindestlohn – sie sinken also nicht. Ein Mindestlohn erhöht dementsprechend also die gesamte Lohnsumme: Die Lohnspreizung im Unternehmen nimmt ab und die Lohnverteilung wird gleicher.
«Ein Mindestlohn erhöht dementsprechend die gesamte Lohnsumme. die Lohnspreizung im Unternehmen nimmt ab und die Lohnverteilung wird gleicher.»
Was bedeuten gestiegene Löhne für die Konsument:innen? Wird alles teurer?
Michael Siegenthaler: Es ist tatsächlich so, dass die Konsument:innen gemäss den meisten Studien für die höheren Löhne bezahlen. Bevor man jetzt aber das Gefühl hat, dass alles extrem teuer wird, muss man aber genau hinschauen. Dabei ist zentral, welchen Anteil die Lohnkosten an den Gesamtkosten eines Betriebs ausmachen. Und noch eine Schicht tiefer, wie viel der gesamten Lohnkosten überhaupt von einem Mindestlohn betroffen sind. Der Kostenanstieg durch Mindestlöhne ist für die meisten Betriebe daher gar nicht so gross. Etwa im Detailhandel machen die Lohnkosten vielleicht 20 Prozent der Gesamtkosten aus. Der Lohnanstieg bei den schlecht bezahlten Angestellten an der Kasse ist im Vergleich zu den gesamten Lohnkosten auch nicht so hoch, weil Mindestlohnmitarbeiter:innen per Definition wenig verdienen, teils auch mit reduzierten Pensen arbeiten, und daher lohnmässig nicht so stark ins Gewicht fallen.
Das heisst selbst wenn die Zusatzkosten komplett in Form eines Preisanstiegs an die Konsument:innen weiter gegeben werden, ist das beim Einkauf wenig spürbar.
Und akzeptieren die Konsument:innnen das?
Michael Siegenthaler: Wären die Konsument:innen nicht bereit, das zu zahlen, würden sie weniger konsumieren. Das wiederum würde dazu führen, dass die Umsätze zurückgingen und die Betriebe entsprechend Personal entlassen müssten. Weil wir aber meist keine negativen Effekte auf die Beschäftigung sehen, kann man sagen, dass die Konsument:innen wohl bereit dazu sind.