Kantonale Mindestlöhne stehen unter Druck

Die bürgerliche Mehrheit will kantonale Mindestlöhne aushebeln. Der Bundesrat warnt, dass damit die Souveränität der Kantone angegriffen wird. Die Folge der Motion wären tiefere Löhne für Angestellte – zum Beispiel in der Gastronomie.

Bürgerliche wollen kantonale Mindestlöhne aushebeln. Betroffen sind beispielsweise Angestellte in der Gastrobranche. (KEYSTONE/Laurent Gillieron)

Es ist kein Zufall, dass der Branchenverband der Gastronomie an vorderster Front für die Motion von Ständerat Erich Ettlin kämpft. Mit einem Mindestlohn von nur 3’582 Franken im Monat liegt der allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsvertrag der Branche nämlich deutlich unter dem Mindestlohn in Genf oder Basel. Durch eine Hintertür sollen die kantonalen Regelungen nun ausgehebelt werden, damit wieder tiefere Löhne ausbezahlt werden können. Das ist besonders problematisch, weil die Festlegung von kantonalen Mindestlöhnen – wie das Bundesgericht explizit festhält – eine sozialpolitische Massnahme ist, mit dem Ziel Working poor zu verhindern.

Mindestlöhne wirken gegen Working Poor

Gemäss Caritas Schweiz sind in der Schweiz 722’000 Menschen armutsbetroffen. 158’000 Personen sind sogenannte Working poor, die trotz Erwerbsarbeit als arm gelten. Genau hier setzen die kantonalen Mindestlöhne an. Die Kantone sind gemäss der Bundesverfassung dafür zuständig sozialpolitische Massnahmen zu ergreifen. Dies hat das Bundesgericht im Fall des kantonalen Mindestlohns in Neuenburg unmissverständlich bestätigt.

Auch die Wirtschaftswissenschaft ist sich mehrheitlich einig, dass die bürgerlichen Vorurteile gegenüber Mindestlöhnen überholt sind. Laut Michael Siegenthaler, Leiter der Konjunkturforschungsstelle KOF zeigen die Studien klar, dass Mindestlöhne positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Lohngleichheit haben.

Unterlaufen von demokratischen Mehrheitsentscheiden

Aus einer juristischen Perspektive ist der Sachverhalt für den Bundesrat klar. Er hält in seiner Stellungnahme zur Motion fest, dass mit der Motion die verfassungsrechtlichen Kompetenzen der Kantone beschnitten werden:

Ein kantonales Gesetz zum Mindestlohn hat per definitionem eine demokratische Legitimation und muss daher mehr Gewicht haben als ein für allgemeinverbindlich erklärter GAVBundesrat Guy Parmelin

Gleich wie im Ständerat ist nun aber die bürgerliche Mehrheit in Nationalrat der Meinung, dass Vereinbarungen zwischen zwei privaten Organisationen höher gewichtet werden müssen als eine Mehrheit der Stimmbürger:innen in den betroffenen Kantonen.

Dieser Aspekt hat auch innerhalb der SVP, die sich normalerweise stark für die Kantonssouveränität einsetzt, im Vorfeld der Debatte zu erheblichen Spannungen geführt. Im Rat schliesslich folgt die SVP-Fraktion dem Aufruf der Wirtschaftsverbände fast geschlossen. Dies, obschon sich Fraktionspräsident Thomas Aeschi in der Kommission noch gegen die Motion ausgesprochen hat.

 

Das ist ein allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsvertrag (ave GAV)
Ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ist eine Vereinbarung zwischen einem Arbeitgeber und der Gewerkschaft, welche die Angestellten im Betrieb vertritt. Er regelt die Mindest-Arbeitsbedingungen, wie Lohn oder Arbeitszeit. Soll ein GAV nicht nur für einen Betrieb gelten, etwa um gleich lange Spiesse für alle zu schaffen oder Tieflöhne und Lohndumping zu verhindern, können Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände beim Bundesrat eine sogenannte Allgemeinverbindlicherklärung beantragen. Dazu müssen gewisse Kriterien erfüllt sein. Beispielsweise müssen mindestens 50 Prozent der Unternehmen in einem Arbeitgeberverband organisiert sein. Erhält ein GAV die Allgemeinverbindlicherklärung, gilt er für eine bestimmte Zeit für alle Angestellten und Arbeitgeber einer Branche oder Region sowie für ausländische Dienstleistende in der Schweiz. Grosse allgemeinverbindliche GAV gibt es beispielsweise in der Gastronomie oder dem Bauhauptgewerbe.

1 Kommentar

  1. Für bürgerliche Politiker und Politikerinnen sind Rechtsstaat, Souveränität der Kantone und Gewaltenteilung solange gut, als sie ihren Interessen dienen. Und bürgerliche Politikerinnen und Politiker sind solange an der Macht, wie die Wählerinnen und Wähler ihre eignen Interessen nicht kennen (wollen).

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