Jede fünfte Person geht wegen den hohen Kosten nicht mehr zum Arzt

Immer mehr Menschen wählen wegen den hohen Krankenkassenprämien die höchste Franchise, damit die obligatorische Versicherung etwas günstiger ist. Im Krankheitsfall verzichten sie dann wegen den hohen Kosten auf den Arztbesuch. Philippe Luchsinger, Hausarzt und Präsident des Berufsverbands Haus- und Kinderärzte Schweiz mfe, zeigt die gefährlichen Konsequenzen auf und erklärt, warum die Prämien-Entlastungs-Initiative Abhilfe schaffen könnte.

Foto: Keystone/Picture Allianze (Christin Klose)

Nicht nur die steigenden Krankenkassenprämien machen den Menschen in der Schweiz zu schaffen, sondern auch die hohen Franchisen und der Selbstbehalt, der bei einem Besuch beim Arzt anfällt. Die Folgen: Immer mehr Patient:innen lassen sich gar nicht erst untersuchen. Dies hat viele negative Folgen für das Gesundheitssystem und führt zu gefährlichen Krankheitsverläufen. Ein Gespräch mit dem Hausarzt und Präsident des Berufsverbands der Haus- und Kinderärzte Philippe Luchsinger.

Philippe Luchsinger. Foto: mfe
«direkt»: Wegen den hohen Krankenkassenprämien wählen viele Menschen die höchste Franchise. Das heisst: Sie müssen neben den monatlichen Prämien die ersten 2500 Franken selbst bezahlen, die für eine Behandlung anfallen. Eine einfache Untersuchung ist darum trotz Versicherung sehr teuer. Welche Folgen hat das für die Gesundheitsversorgung?

Philippe Luchsinger: Wenn Sie wissen, dass Sie die ersten 2500 Franken plus die Anteile des Selbstbehalts – also nochmals bis 700 Franken – schlicht nicht haben, werden Sie nicht zum Arzt gehen. Sie gehen nicht auf den Notfall und werden die benötigten Medikamente nicht kaufen. Man könnte meinen, dass das Gesundheitswesen durch die hohen Franchisen entlastet wird. Nur: Es sind die Falschen, die sich nicht behandeln lassen! Die Folgen? Eine deutlich schlechtere Versorgung mit ungleich höheren Folgekosten.

«Die Patient:innen leiden unnötig.»

Was bedeutet es aus medizinischer Sicht konkret für eine Person, wenn sie aus finanziellen Gründen auf eine notwendige medizinische Behandlung verzichtet?

Wir müssen zwischen zwei Situationen unterscheiden: In der Akutsituation wird keine korrekte Diagnose gestellt, wenn man sich nicht von einer Fachperson beurteilen lässt. Das verhindert wiederum die richtige Behandlung.

In der Langzeitbetreuung bedeutet das, dass Kontrolltermine nicht wahrgenommen werden. So wird diese unterbrochen und der Verlauf beeinträchtigt. Das wiederum führt vermehrt zu Komplikationen – mit Einbussen bei der Lebensqualität und Lebensdauer. Oder anders gesagt: Die Patient:innen leiden unnötig.

«Neu ist aber, dass auch Familien und Personen aus dem Mittelstand immer mehr Mühe bekunden, ihre Prämien zu begleichen.»

Sind von dieser Situation in erster Linie Menschen betroffen, die in Armut leben oder armutsgefährdet sind, oder verzichten auch Menschen mit mittlerem Einkommen vermehrt aus finanziellen Gründen auf medizinische Behandlungen?

Bei den Armutsgefährdeten kennen wir dieses Verhalten schon länger. Dort bestehen zum Teil Möglichkeiten der Unterstützung. Neu ist aber, dass auch Familien und Personen aus dem Mittelstand immer mehr Mühe bekunden, ihre Prämien zu begleichen. Und in zunehmendem Masse entsprechend auch auf Behandlungen verzichten.

Hat diese Entwicklung in den letzten Jahren zugenommen?

Seit 2010 beteiligt sich die Schweiz an einer internationalen Umfrage zur Gesundheitsversorgung. Gerade letztes Jahr wurde die vierte Umfrage durchgeführt. Sie hat eindeutig gezeigt, dass die Anzahl der Menschen deutlich zugenommen hat, die auf eine medizinische Behandlung verzichten. Waren 2010 noch 5 Prozent in dieser Situation, so sind es 2023 fast 20 Prozent. Also jede fünfte Person!

«Jede Verzögerung, jede nicht adäquate Behandlung führt zu sehr teuren Komplikationen.»

Wer sich nicht untersuchen lässt, geht das Risiko ein, dass eine Krankheit zum Zeitpunkt der Diagnose bereits weit fortgeschritten ist. Welche Folgen hat das für das Gesundheitssystem?

Vielleicht kann ich das an zwei Beispielen erläutern: Bei einer Krebsdiagnose ist es entscheidend, zu welchem Zeitpunkt die Krankheit diagnostiziert wird. Je weniger weit er gewachsen und sich ausbereiten konnte, desto besser sind die Chancen, ihn erfolgreich behandeln zu können. Erfolgt die Diagnose spät, ist der Behandlungsaufwand ungleich grösser. Das führt dann zu höheren Kosten und schlechteren Behandlungsresultaten, sprich mit geringerer Lebens- und unnötiger Leidenszeit.

«Mit der Prämien-Entlastungs-Initiative können die Menschen wieder eine tiefe Franchise wählen, entsprechend belastet eine Erkrankung das Haushaltbudget deutlich weniger.»

Zweites Beispiel: Diabetes und hoher Blutdruck. Heute haben Patient:innnen bei beiden Krankheiten, früh entdeckt und konsequent behandelt, eine normale Lebenserwartung, zu einem günstigen Preis. Jede Verzögerung, jede nicht adäquate Behandlung führt zu sehr teuren Komplikationen wie Herzinfarkt oder Nierenversagen. Das kann man verhindern!

Die Prämien-Entlastungs-Initiative will die Prämien bei 10 Prozent des Einkommens deckeln. Damit wäre das Problem mit der hohen Franchise noch nicht gelöst. Denken Sie, dass ein Ja an der Urne am 9. Juni trotzdem dazu führen könnte, dass Patient:innen wieder rechtzeitig medizinische Hilfe in Anspruch nehmen werden?

Mit der Prämien-Entlastungs-Initiative können die Menschen wieder eine tiefe Franchise wählen, entsprechend belastet eine Erkrankung das Haushaltbudget deutlich weniger. Sie werden nicht mehr jeden Franken umdrehen müssen, um zu entscheiden, ob sie sich abklären und behandeln lassen können. Das hat positive Auswirkungen für die Patient:innen, aber auch auf die Gesundheitskosten.

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