Nationalrat anerkennt, dass Sex ohne Zustimmung Vergewaltigung ist

In einem historischen Entscheid spricht sich der Nationalrat für eine Neudefinition der Vergewaltigung aus. Künftig soll mit «Nur Ja heisst Ja» ein Modell gelten, das die Opfer von Vergewaltigungen nicht mehr mit in die Verantwortung nimmt. Anders als der Ständerat schlägt er einen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht vor, der einen effektiven Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ermöglicht.

Frauen fordern an einer Demonstration «Nur ja heisst ja» die Ueberarbeitung des Sexualstrafrechts Art. 190 in den Strassen von Zuerich, aufgenommen am Samstag, 21. Mai 2022. (KEYSTONE / Ennio Leanza)

Der gestrigen Debatte im Nationalrat ging ein langer Prozess voraus, in der sich linke Parteien, NGOs und Aktivist:innen für eine Zustimmungslösung eingesetzt hatten. In der Nationalratsdebatte konnten sich SP, Grüne, GLP sowie Minderheiten von Mitte und FDP schliesslich mit 99 zu 88 Stimmen durchsetzen. Sie sprechen von einem Etappensieg. Der Ball liegt nun wieder beim Ständerat. Anders als der Nationalrat, hat sich dieser für das vorgeschlagene Modell von Justizministerin Karin Keller-Sutter «Nein heisst Nein» ausgesprochen.

Opfer hat keine Mitverantwortung

Während der «Nur Ja heisst Ja»-Ansatz die Zustimmung aller beteiligten Personen verlangt, bedeutet «Nein heisst Nein», dass sich betroffene Personen aktiv gegen eine sexuelle Handlung aussprechen müssen. Somit muss sich das Opfer rechtfertigen und erklären, wenn es nicht «Nein» gesagt oder sich nicht gewehrt hat. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn sich die Person in einer Schockstarre befindet. «Der betroffenen Person wird aufgrund ihres Verhaltens weiterhin eine gewisse Mitverantwortung zugewiesen», schreibt die Menschenrechts-Organisation Amnesty International.

Auch die Juristin Nora Scheidegger, deren Doktorarbeit zum Reformbedarf des Schweizer Sexualstrafrechts die Gesetzesänderung mit angestossen hat, spricht sich für die Zustimmungsregelung aus. Gegenüber dem Beobachter sagt sie:

«‹Ja heisst Ja› enthält die wichtige Botschaft, dass Sexualität nichts ist, das man sich einfach nehmen kann, solange der andere nicht widerspricht.»

Neben zahlreichen Frauenrechts-Organisationen war auch die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF für die Zustimmungsregelung. Die von der Keller-Sutter bevorzugte «Nein-heisst-Nein»-Lösung bezeichnet sie als ungenügend und fordert ein Umdenken: «Die entscheidende Frage soll sein, ob das Opfer zugestimmt hat oder nicht.»

Lückenhaftes Sexualstrafrecht

Beide Parlamentskammern waren sich in der Debatte einig, dass die aktuelle Definition von Vergewaltigung im Sexualstrafrecht lückenhaft ist und überarbeitet werden muss. Neben der zentralen Frage der Zustimmung respektive des Widerspruchs als Ersatz für das Nötigungs-Prinzip beinhaltet der Revisionsvorschlag zum Beispiel auch eine geschlechtsneutrale Formulierung. Bisher konnten juristisch gesehen nur Frauen Opfer von Vergewaltigungen werden.

Jetzt geht das Geschäft zurück an den Ständerat. Folgt dieser der Mehrheit des Nationalrats wird der Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht wirksam und die Schweiz wird das 15. europäische Land mit einem «Nur Ja heisst Ja»-Modell.

 

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