Asti Roesle: «Die Biodiversität ist zentral für unser Überleben.»

Der Verlust der Biodiversität hat verheerende Auswirkungen – auch auf das menschliche Leben. Asti Roesle von der Klima-Allianz Schweiz erklärt in ihrer Kolumne, warum ein Ja zur Biodiversitätsinitiative am 22. September für uns so wichtig ist.

Bild von Asti Roesle von der Klima-Allianz Schweiz
Asti Roesle von der Klima-Allianz Schweiz. Bild: zVg

Biodiversität und Klima stehen in einer engen Wechselwirkung zueinander. Beide sind für unser Leben – oder gar unser Überleben – und die Stabilität unseres Planeten entscheidend. Am 22. September stimmen wir über die Biodiversitätsinitiative ab. Sie ist eine Chance für uns alle.

«Der Rückgang vieler Arten ist auf die Zerstörung ihrer Lebensräume zurückzuführen. Durch intensiv-industrielle Landwirtschaft mit Pestizideinsätzen, die Urbanisierung aber auch durch grosse Infrastrukturprojekte gehen immer mehr natürliche Lebensräume verloren.»

Biodiversität wird oft mit Artenvielfalt gleichgesetzt. Doch das greift zu kurz. Biodiversität bedeutet auch die Vielfalt der Gene sowie der Lebensräume und sie umfasst die Interaktion zwischen diesen verschiedenen Ebenen. Wie beim Klima haben Wissenschaftler:innen auch hier eine klare Botschaft: Wir brauchen dringend Massnahmen zum Schutz der Biodiversität, da wir uns global bereits mitten im sechsten Massensterben der Erdgeschichte befinden. Es ist das anthropogene Massensterben, also das durch den Menschen verursachte Aussterben zahlreicher Arten. Dieser Verlust der biologischen Vielfalt bedroht in grossem Ausmass die Zukunft der menschlichen Gesellschaft.

Menschengemachtes Massensterben

Vor dem aktuellen Massensterben gab es in der Erdgeschichte bereits fünf grosse Massensterben, bei denen zahlreiche der damals existierenden Arten in kurzer geologischer Zeit ausgestorben sind. Diese Massensterben wurden durch verschiedene globale Katastrophen verursacht. Dazu gehören beispielsweise vulkanische Aktivitäten, Klimaveränderungen und Einschläge von Himmelskörpern. Die Hauptursache für das aktuelle Massensterben ist eine andere: Der Rückgang vieler Arten ist auf die Zerstörung ihrer Lebensräume zurückzuführen. Durch intensiv-industrielle Landwirtschaft mit Pestizideinsätzen, die Urbanisierung aber auch durch grosse Infrastrukturprojekte gehen immer mehr natürliche Lebensräume verloren.

«Kommen die Ökosysteme aus dem Gleichgewicht, kann dies dazu führen, dass für uns lebenswichtige Dienstleistungen wie die Bestäubung von Gemüse und Früchten, die Wasserreinigung und die Klimaregulation ins Wanken kommen.»

Zum Beispiel Insekten

Vor 23 Jahren dichtete Züri West folgende Zeilen für den Song «Toti Flüger» – einer meiner Lieblingssongs der Band: «Dr Kanton Aargou flügt vrbii – u millione toti Flüger – chläbe chrüz u quer verquätscht a mire Windschutzschibe». Eine Zeile, auf die heute niemand mehr kommen würde. Windschutzscheiben sind ein praktischer Indikator dafür, wie rapide die Insektenanzahl und -vielfalt in unserem Land und allgemein in Europa in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat. Das ist unheimlich, denn Insekten spielen wegen ihres Artenreichtums, ihrer Biomasse und ihrer vielfältigen Spezialisierungen eine tragende Rolle in fast allen Ökosystemen. Kommen die Ökosysteme aus dem Gleichgewicht, kann dies dazu führen, dass für uns lebenswichtige Dienstleistungen wie die Bestäubung von Gemüse und Früchten, die Wasserreinigung und die Klimaregulation ins Wanken kommen. Auch die genetische Vielfalt, die für die Anpassungsfähigkeit an Umweltveränderungen massgebend ist, geht verloren.

Die Forschung zeigt auf, dass die Insektenpopulationen in der Schweiz, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, stark rückläufig sind. 2021 hat die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) einen Zustandsbericht zur Insektenvielfalt der Schweiz veröffentlicht. Darin steht folgendes: «Sollen die teils dramatischen Entwicklungen gestoppt und die Insektenvielfalt in der Schweiz langfristig erhalten bleiben, wie auch seitens Politik gefordert, müssen die bestehenden Instrumente zur Erhaltung und Förderung gefährdeter Lebensräume und Arten angepasst und ergänzt werden.»

Solche Rettungsmassnahmen sind zum Glück möglich: Der Schutz und die Wiederherstellung von Lebensräumen, eine nachhaltige Ressourcennutzung, die Bekämpfung des Klimawandels und die Erhaltung gefährdeter Arten sind zentrale Massnahmen, um das sechste Massensterben zu verlangsamen oder zu stoppen. Doch dazu braucht es Ressourcen.

«Trotz dem pragmatischen Vorschlag löst die Initiative heftige Reaktionen und hitzige Debatten aus. Warum? Die Gegner:innen der Initiative – allen voran der Bauernverband, der offensichtlich für die Interessen der Agrarkonzerne lobbyiert – benutzen das altbewährte und neu aufgekochte Rezept der Angstmacherei.»

Die Biodiversitätsinitiative zielt darauf ab, den rechtlichen Rahmen für den Schutz der Biodiversität in der Schweiz zu stärken. Nachhaltige Praktiken sollen gefördert und die ökologische Vernetzung verbessert werden. Der Initiativtext ist insgesamt sehr offen formuliert und lässt Spielraum bei der Umsetzung.

Angstmacherei und Fakenews

Trotz dem pragmatischen Vorschlag löst die Initiative heftige Reaktionen und hitzige Debatten aus. Warum? Die Gegner:innen der Initiative – allen voran der Bauernverband, der offensichtlich für die Interessen der Agrarkonzerne lobbyiert – benutzen das altbewährte und neu aufgekochte Rezept der Angstmacherei: «30 Prozent Fläche weg?  Tschüss Schweizer Lebensmittelproduktion, tschüss Schweizer Holz, tschüss Schweizer Stromversorgung und tschüss Entwicklung im Berggebiet.» Dafür: Mehr Einschränkungen, mehr Bürokratie, Gefährdung der Selbstversorgung, Gefährdung des Tourismus – extrem und unnötig. Das alles steht so wörtlich auf der Webseite des Gegenkomitees.

«Mir ist bewusst, dass auch meine Erläuterungen zum sechsten Massensterben Ängste auslösen können. Der Unterschied zur Angstmacherei des Nein-Komitees: Es handelt sich beim Massensterben um wissenschaftlich belegte Tatsachen.»

Ja, die aktuelle Weltlage bietet idealen Nährboden, um den Menschen Angst einzujagen. Dabei scheut man sich auch nicht vor falschen Fakten: Dass fast ein Drittel der Landwirtschaftsfläche für die Biodiversität reserviert werden soll, steht so nirgends im Initiativtext. Der Grossteil der eingebüssten Landwirtschaftsflächen geht sowieso nicht für Biodiversitätsförderung verloren, sondern weil auf ehemaligem Landwirtschaftsland gebaut wird. Auch die Gefährdung der Schweizer Lebensmittel- und Holzproduktion, des Tourismus in Berggebieten und der Stromproduktion ist reine Angstmacherei, mit der die Strateg:innen des Nein-Komitees gezielt die ländliche Bevölkerung aufschrecken möchten. Betreffend Stromversorgung zeigt ein Rechtsgutachten von Prof. Peter M. Keller klar auf, dass die Biodiversitätsinitiative mit der Förderung erneuerbarer Energien kompatibel ist und somit im Einklang mit den neuen Bestimmungen des Stromgesetzes steht.

Schutz im In- und Ausland

Mir ist bewusst, dass auch meine Erläuterungen zum sechsten Massensterben Ängste auslösen können. Der Unterschied zur Angstmacherei des Nein-Komitees: Es handelt sich beim Massensterben um wissenschaftlich belegte Tatsachen. Deshalb bleibt zu hoffen, dass eine Mehrheit der Stimmbürger:innen den falschen Fakten und Angst-Argumenten nicht auf den Leim kriecht. Neben einem Ja zur Biodiversitätsinitiative müssen wir uns aber auch für Massnahmen einsetzen, die zu einem nachhaltigeren Konsumverhalten führen und Konzerne zur Rechenschaft ziehen. Durch den Import und Handel von Rohstoffen und Konsumgütern verursachen die Schweiz und ihre Konzerne auch grosse Biodiversitätsschäden im Ausland.


Asti Roesle ist Koordinatorin bei der Klima-Allianz Schweiz zum Thema Finanzsektor und Klima. Die ausgebildete Forstingenieurin und Juristin ist seit über 20 Jahren Klimaaktivistin und arbeitete während 14 Jahren in internationalen Umweltprojekten bei Greenpeace.

Die Kolumne ist eine «Carte Blanche» und widerspiegelt die Meinung der Autorin.

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