Franziska Schutzbach: «Javier Milei proklamiert die Abschaffung des Sozialstaates»

Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach analysiert in ihrer Kolumne die Rede des argentinischen Präsidenten Javier Milei am WEF. Dieser proklamiert den Wohlstand für wenige und will dem Sozialstaat an den Kragen. Darunter fallen auch feministische Errungenschaften.

Foto: Anne Morgenstern

Der neu gewählte argentinische Präsident Javier Milei unternahm vor zwei Wochen seine erste Amtsreise und besuchte das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos. War er zuvor noch mit Punk-Posen und Kettensägen aufgefallen, hielt er in der Schweiz einen wissenschaftlich klingenden Vortrag. Keine emotionalen Ausbrüche, keine Anarcho-Inszenierungen: Fast eine halbe Stunde lang las er gesittet von einem Manuskript ab. Mit seiner Brille professoral auf der Nase sprach er in schnellem, von Fremdwörtern durchsetztem Spanisch. Der Dolmetscher kam kaum mit. Milei präsentierte sich der Weltöffentlichkeit als einer, der die ökonomische Theorie beherrscht.

Wenn man Mileis Forderungen ernst nimmt, beutetet das, dass Arbeiter:innen unbegrenzt ausgebeutet werden könnten.

So wissenschaftlich seine Ausführungen klangen, so banal waren seine Forderungen: Der Markt und die Unternehmen sollen freie Hand haben, jegliche politische Einmischung gehört abgeschafft. Zu Ende gedacht bedeutet diese absolute Freiheit von Unternehmen und Kapital konkret, dass demokratische Institutionen und Errungenschaften verschwinden sollen. Dazu gehören Gewerkschaften und Arbeiter:innenrechte, aber auch Steuern, Zollschranken oder Gleichstellungspolitik. Mileis Forderungen bedeuten nichts anderes als dass Arbeiter:innen unbegrenzt ausgebeutet werden können. Ein Beispiel: Setzten sich Gewerkschaften nicht mehr für eine Regulierung der Arbeitszeiten, der Arbeitsbedingungen oder der Löhne ein, könnten Unternehmen Arbeiter:innen wie früher 16 Stunden am Tag schuften lassen. Freizeit läge im Ermessen der Konzerne. Unternehmen dürften ihre Interessen letztlich auch mit Gewalt durchsetzen, analysiert der Soziologe Andreas Kemper, also zum Beispiel mit eigenen Privatarmeen, eigenen Gefängnissen und Bestrafungssystemen. Auch Kinderarbeit und Menschhandel wären wieder denkbar.

Wohlstand auf Kosten der Bevölkerung

Was Argentiniens Präsident in Davos proklamierte, ist die Abschaffung des Sozialstaats – und damit die Abschaffung der demokratischen Verfassungen. In diesen ist der Auftrag formuliert, dass ein Staat sozial sein muss. Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen. Diese historische und für Demokratien zentrale Verbindung löste Javier Milei in Davos kurzerhand auf. Er erntete dafür grossen Applaus und bekam einen freundlichen Handschlag von WEF-Gründer Klaus Schwab.

Milei ist nicht der einzige mit dieser Agenda. Akteure wie Elon Musk, Investor Peter Thiel, der Axel-Springer-Verlag oder die Weltwoche fahren einen ähnlichen Kurs. Es sind Vertreter einer globalen demokratiefeindlichen Bewegung. Sie grenzen sich von herkömmlichen völkisch-nationalistischen Rechtsextremen ab, fordern keine weisse Vorherrschaft und sprechen nicht von «Re-Migration». Diese Leute geben sich modern und agil oder auch «erfrischend unkompliziert», wie der «Blick» Javier Mileis Auftritt in Davos lobend kommentierte.

Rechts-libertäre Politik bedeutet, dass die Freiheit der grossen Masse, der arbeitenden Bevölkerung, geopfert wird.

Akteure wie Milei kapern dabei gerne linke Symbolik und Sprache. Zum Beispiel nennt er sich «Anarcho-Kapitalist» oder eben «libertär». Dabei ist er alles andere als freiheitlich und «anarchistisch». Anarchismus wäre: «Keine Macht für niemand» – alle sind gleich und keiner herrscht über andere. Das ist exakt das Gegenteil dessen, was Milei vorschwebt. Er verspricht zwar Freiheit und Wohlstand für alle, meint aber Freiheit und Wohlstand für einige wenige. Es geht um die Freiheit und den Schutz des Eigentums sowie der Reichen. Arbeiter:innenrechte, Menschenrechte, Grundrechte, demokratische Verfassungsaufträge und soziale Absicherung werden hinten angestellt oder verschwinden komplett. Kurz: Rechts-libertäre Politik bedeutet, dass die Freiheit der grossen Masse – also der arbeitenden Bevölkerung – geopfert wird. Dazu gehören auch ihre Rechte, ihre Sicherheit und ihre Freizeit.

Milei, der Antifeminist

Milei sprach in Davos auch über Feminismus. Er sieht darin eine grosse Gefahr für die Ökonomie. Seine Meinung: Gleichstellungspolitik und Gleichstellungsbeauftragte gehörten abgeschafft und Abtreibung sei gegen die Natur. Spätestens nach diesem Statement war klar, dass es Milei überhaupt nicht um individuelle Freiheit und Selbstbestimmung geht. Frauenrechte sind seiner Ansicht nach ein widernatürlicher Eingriff in die Natur. Der Rechts-Libertarismus offenbart hier seine in Tat und Wahrheit unfreiheitliche, quasi-religiöse Weltsicht: Plädiert wird dafür, dass ein angeblicher Geschlechter-Naturplan eingehalten werden müsse – das Gegenteil von Freiheit und Selbstbestimmung.

Diese antifeministische Rhetorik funktioniert deshalb so gut, weil Frauenfeindlichkeit, Sexismus und Queer-Feindlichkeit in allen gesellschaftlichen Milieus weit verbreitet sind. Antifeminismus wirkt verbindend zwischen sehr unterschiedlichen Kräften: Zwischen Rechtsextremen, christlich-fundamentalistischen, aber auch liberalen. Selbst manche Linke sind der Meinung, dass Feminist:innen oder LGBTIQ-Aktivist:innen den Bogen überspannen oder gar die Herrschaft übernehmen wollten und deshalb gestoppt werden müssten. Übergreifend ist man sich in diesen Kreisen ebenfalls einig in der Vorstellung, dass Frauen von Natur aus zuständig seien für Sorgearbeit, dass trans Menschen und Homosexualität «wider die Natur» seien. Rechten Parteien und Akteuren wie Javier Milei ist es in den vergangenen Jahren gelungen, an diese antifeministischen und queer-feindlichen Ressentiments anzudocken und Menschen für eine anti-demokratische Agenda zu begeistern.

Es geht dabei nicht nur um Geschlechterfragen, es geht um mehr: Das Ziel antifeministischer Rhetorik ist es, einen Keil in die Mitte der Gesellschaft zu treiben und dort grundsätzlich die Idee beliebt zu machen, dass Hierarchien und Ausbeutung natürlich seien und zum Beispiel auch Märkte oder soziale Ungleichheit einer natürlichen Ordnung folgten. Antifeminismus ist Teil einer mittlerweile globalen Strategie, mit der demokratie-feindliche Kräfte die Idee salonfähig machen, bestimmte Machtstrukturen und Besitzverhältnisse seien unantastbar.

Wie können wir die Demokratie schützen?

Konservative und liberale Kräfte, die auf den Zug der Anti-Gender-Rhetorik aufgesprungen sind, müssen sich die Frage gefallen lassen, wozu sie da eigentlich beitragen. Die Behauptung ist falsch, dass sich eine Radikalisierung nach rechts verhindern lasse, wenn konservative sowie liberale Medien und Akteure die angebliche Gefahr durch den Feminismus, «Woke» oder durch Migration debattieren. Es ist genau umgekehrt, wie die Forschung zeigt: Populisten und Rechtsextreme gewinnen, wenn andere ihre Positionen und Weltdeutungen übernehmen.

Die Medien müssen dringend aufhören, die Themen und Framings von Rechtspopulist:innen, Rechtsextremen und Rechts-Libertären ins Zentrum zu stellen.

Die Diskreditierung von Gleichstellung, Frauen- und LGBTIQ-Rechten sind Kernthemen der AfD, der SVP oder Politikern wie Javier Milei. Wenn konservative und liberale Kräfte diese Feindbilder ebenfalls bedienen, nehmen sie den Populisten nicht die Kraft, sondern stärken sie . Anders ausgedrückt: Wenn liberale Kräfte die rechten, rechtsextremen und rechts-libertären Weltdeutungen übernehmen, wenn Medien wie die NZZ oder der Tagesanzeiger ununterbrochen Ressentiment-Journalismus gegen «Gender-Sprache», trans Menschen oder gegen staatliche Gleichstellungspolitik betreiben, stärkt das nicht die Demokratie oder die «demokratische Debatte», sondern die Unterstützung für Rechtsextreme und Rechtspopulist:innen. Medienaufmerksamkeit für Themen, die einer Partei oder bestimmten Akteuren gehören, erhöht die Unterstützung für die Themenbesitzer, zeigen empirische Studien. Dagegen müssen sich konservative sowie liberale Kräfte wehren, wenn ihnen etwas an der Demokratie liegt. Die Medien müssen dringend aufhören, die Themen und Framings von Rechtspopulist:innen, Rechtsextremen und Rechts-Libertären ins Zentrum zu stellen.

Das heisst nicht, dass man sich nicht kritisch mit diesen Themen befassen. Framings, die eine pauschale Gefahr durch «Woke», «trans Menschen», «Feminismus» oder Migrant:innen unterstellen, sind jedoch faktisch falsch. Weder trans Menschen, Frauen noch Feminist:innen stehen an der Spitze der Gesellschaft. Faktisch falsch ist auch, dass Migration der Ursprung aller Probleme sei.

Wenn wir die Demokratie schützen wollen, ist es die Aufgabe demokratischer Kräfte aller Lager, die Rhetorik von Milei, Trump, der AfD und von SVP-Scharfschützen in der Schweiz als das zu entlarven, was sie ist: Eine Ansammlung von frauenverachtenden, queer-feindlichen, rassistischen, anti-sozialen, irrationalen undfaktenfernen Ideologien.


Franziska Schutzbach ist Buchautorin, promovierte Geschlechterforscherin, feministische Aktivistin sowie Dozentin für Geschlechterforschung und Soziologie an der Universität Basel. 2021 hat sie den Bestseller «Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit» veröffentlicht.

Die Kolumne ist eine «Carte Blanche» und widerspiegelt die Meinung der Autorin. 


 

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