Wahlen in Südafrika: «Wir stehen vor einer schwierigen Zeit»

Südafrika hat eine neue Regierung gewählt. Bereits im Vorfeld galten die Wahlen als wegweisendste seit den ersten demokratischen Wahlen im Land vor 30 Jahren, als Nelson Mandela Präsident wurde. Nun verlor der African National Congress erstmals die Mehrheit im Parlament. Was bedeutet das für die grösste Bewegung im Land, die Arbeiter:innen? Ighsaan Schroeder, Leiter des Casual Workers Advice Office in Südafrika, im Interview.

Wähler gibt seine Stimme am Sonderwahltag der Parlamentswahlen 2024 in einer Kirche in Johannesburg, Südafrika, am 28. Mai 2024 ab. Die Sonderwahl ermöglicht es denjenigen, die am Hauptwahltag nicht wählen können, ihre Stimme am Vortag abzugeben. Die Südafrikaner:innen gehen am 29. Mai zu den Wahlen, die 30 Jahre nach dem Ende der Apartheid und den ersten freien und fairen Wahlen im Land stattfinden. EPA/KIM LUDBROOK
Die geringste Wahlbeteiligung seit 1994, historisch tiefe 40 Prozent der Stimmen für die Mandela-Partei ANC und eine erstmalige Regierungskoalition. Ighsaan Schroeder, waren diese Wahlen eine Überraschung für Sie?

Ighsaan Schroeder: Ich bin nicht überrascht über das Gesamtergebnis der Wahlen. Da wir täglich in Kontakt mit den Arbeiter:innen stehen, war es nicht schwer zu erkennen, welche Einstellung sie zur Teilnahme an den Wahlen hatten. Dementsprechend tief war die Wahlbeteiligung mit 59 Prozent.

Und ihre Einstellungen zu den Parteien?

Zum ANC war sie ziemlich klar: Die Partei hat seit dem Übergang zur Demokratie 1994 enttäuscht, da die Ungleichheit im Land heute grösser ist als zuvor. Was mich ein wenig überrascht hat, ist, dass die Democratic Alliance DA besser abgeschnitten hat als erwartet. Ein Grund dafür könnte sein, dass die weissen, rechtsgerichteten Wähler:innen, die normalerweise für die Freedom Front Plus, eine rechtsextreme Partei, stimmen würden, ihre Stimmen der DA gegeben haben.

«Wir stehen vor einer schwierigen Zeit und ich denke, die grassierende Ungleichheit in Südafrika wird weiter zunehmen.»

Überall liest man, dass die Regierungskoalition aus ANC und DA dem Land neue Hoffnung und Aufschwung bringt. Man spricht von einer Regierung der Nationalen Einheit.

Es ist irreführend, dass sie es eine Regierung der nationalen Einheit nennen. Es ist nur eine Koalition zwischen dem ANC und der DA. Die Absichtserklärung, die im Wesentlichen die Idee einer Regierung der nationalen Einheit und deren Arbeitsweise darlegt, wurde nur vom ANC und der DA unterschrieben. Keine der anderen Parteien, die der Regierung der Nationalen Einheit beigetreten sind, hat die Absichtserklärung unterzeichnet. Sie werden zwei oder drei Sitze im Parlament haben, aber sie werden nicht in der Lage sein, irgendetwas wesentlich zu bestimmen. Ich glaube nicht, dass die Koalition funktionieren wird, weil es keine materiellen Veränderungen im Leben der Menschen geben wird. Es wird nicht plötzlich höhere Löhne, Wohnraum, Wasser oder Strom geben.

Ighsaan Schroeder, Leiter des Casual Workers Advice Office in Südafrika (Foto: Solidar Suisse)
Wie wird sich diese Kombination auf die arbeitende Bevölkerung im Land auswirken?

Wir stehen vor einer schwierigen Zeit und ich denke, die grassierende Ungleichheit in Südafrika wird weiter zunehmen. Keine der Parteien ist progressiv, einschliesslich des ANC. Es sind alles Parteien aus dem rechten Flügel, die sich der neoliberalen Politik verschrieben haben. Einige von ihnen sind sogar sehr konservativ und xenophob. Ich sehe das als grosses Problem.

«Sie wollen den Mindestlohn abschaffen. Sie wollen, dass prekäre Arbeitskräfte zwölf Monate arbeiten, bevor sie fest angestellt werden müssen, im Moment sind es drei Monate. Sie wollen, dass Arbeitgeber ihre Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Anhörung entlassen können.»

Seit 1995 ist die Arbeitsmarktpolitik des ANC und die eingeführte Gesetzgebung problematisch. Um das zu verdeutlichen: Unter der ANC-Regierung hat die Verbreitung prekärer Arbeitsformen zugenommen. Sie hat zum Beispiel in den letzten Jahren mehr Einschränkungen beim Streikrecht eingeführt. Die DA ist noch schlimmer. Sie will, dass Gewerkschaften, bevor sie streiken können, eine Kaution hinterlegen müssen. Selbst kleine Organisationen. Die meisten von ihnen könnten sich das gar nicht leisten. Das ist eine massive Einschränkung des Streikrechts der Arbeiter*innen, das in der Verfassung verankert ist.

Was ist ihre Absicht damit?
Man versucht, die verfassungsmässigen Rechte, die die Arbeiter:innen in Südafrika in 30 Jahren Kampf gegen die Apartheid gewonnen haben, auszuhöhlen. Mit dem ANC und der DA wird es zu einer weiteren Intensivierung der Angriffe auf die Rechte der Arbeiter:innen kommen: Sie wollen den Mindestlohn abschaffen. Sie wollen, dass prekäre Arbeitskräfte zwölf Monate arbeiten, bevor sie fest angestellt werden müssen, im Moment sind es drei Monate. Sie wollen, dass Arbeitgeber ihre Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Anhörung entlassen können. Die DA und der ANC werden sich gegenseitig in ihren Tendenzen bestärken, noch grössere Angriffe auf die Arbeiterklasse zu starten, als wir bisher gesehen haben.

Und es wird noch schlimmer, weil Gewerkschaftsbünde direkt an den laufenden Verhandlungen beteiligt sind, um die Arbeiterrechte anzugreifen. Die Arbeiterbewegung ist Teil des Versuchs, dieses Abkommen der Mehrheit zu verkaufen und es zu rechtfertigen – und sie wird nicht gegen diese Angriffe kämpfen.

«Die Allianz wird ihre Sparmassnahmen fortsetzen. Das wird die gesamte Arbeiterklasse betreffen: Kürzungen im Gesundheitswesen, in der Bildung, bei Wohnraum, Transport, Wasser.»

Warum ist das so?

Die alte, bekannte Arbeiterbewegung, wie wir sie kennen, ist längst vorbei. Die traditionellen Gewerkschaften haben sich schon vor langer Zeit verkauft und frühere Basis der Arbeiter:innen in blauen Overalls verloren. Heute basiert die Bewegung auf den Führungsebenen im öffentlichen Dienst und in der Industrie. Die Gewerkschaftsinvestitionsgesellschaften sind direkt an der Ausbeutung der Arbeitskraft beteiligt und in die Institutionen der Arbeitgeber und des Staates integriert. Sie stützen sich nicht auf eine Schicht von militanten Arbeiter:innen wie in den 1970er und 1980er Jahren. Deshalb existieren wir als CWAO ja überhaupt (lacht). Wenn die Gewerkschaftsbewegung so militant geblieben wäre wie bis in den frühen 1990er Jahren, dann wäre CWAO nicht nötig gewesen.

Bedeutet die neue Regierung Südafrikas also mehr Arbeit für das Casual Workers Advice Office?

Ja, absolut. Die Allianz wird ihre Sparmassnahmen fortsetzen. Das wird die gesamte Arbeiterklasse betreffen: Kürzungen im Gesundheitswesen, in der Bildung, bei Wohnraum, Transport, Wasser, die Privatisierung staatlicher Institutionen wie Eskom und möglicherweise der Häfen wird vorangetrieben. All das wird weitergehen, das steht uns jetzt bevor.

Wie kann die arbeitende Bevölkerung dem entgegenhalten?

Die alte Arbeiterbewegung wird die Rolle, die sie im Anti-Apartheid-Kampf gespielt hat, nicht mehr übernehmen. Aber man beginnt nie von Null. Wir haben historische Erfahrungen und radikale Politik, die wir nutzen, um eine neue Bewegung aufzubauen. Das wird ein langer Prozess, und wir wussten bereits 2011, dass es keine einfachen Lösungen geben wird. Ausserdem muss die Regierung anders handeln. Wenn die demokratische Ordnung ihre Legitimität verliert, müssen sie durch Zwang und Repression regieren, was nicht ideal ist.

Wir werden den Beschäftigten sagen, dass es notwendig ist, die täglichen Kämpfe fortzusetzen und sich weiterhin zu organisieren. Es gibt keine schnelle Lösung für diese Probleme. Wir müssen langfristig denken und weiterhin das tun, was wir tun. Das ist unsere Botschaft.


Ighsaan Schroeder ist der Leiter der Solidar Suisse Partnerorganisation CWAO und bietet mit seinem Team in Johannesburg temporär Angestellten und prekär Beschäftigten Organisations- und Rechtsberatungen an. In Südafrika ist die Arbeitergesellschaft die grösste Bevölkerungsgruppe. Es gibt über fünf Millionen informell Beschäftigte im Land. Sie haben keinen Schutz, keine Sozialleistungen, selten faire Arbeitsbedingungen, wie wir sie in Europa kennen. Der Grossteil von ihnen gehört der schwarzen Bevölkerung an, die sich auch 30 Jahre nach dem Ende der Apartheid nicht von der staatlichen Unterdrückung erholt und von der jungen Demokratie im Land kaum profitiert hat.

Dieser Beitrag wurde von Solidar Suisse übernommen.

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