Im Iran gehen die Proteste seit Wochen unvermindert weiter. «direkt» sprach mit dem iranischstämmigen Schweizer Kijan Espahangizi. Er ist Historiker an der Universität Zürich.
Kijan Espahangizi, sie beobachten die Proteste gegen das islamische Regime, die vor vier Wochen durch die Ermordung von Mahsa Jina Amini ausgelöst wurden genau. Wie haben sich die Proteste entwickelt?
Espahangizi: Iran-Kenner:innen sind sich einig, dass etwas Neues passiert. Es ist binnen Wochen eine Protestbewegung entstanden, die das ganze Land erfasst hat. Es geht über Stadt und Land, über alle Schichten und alle Generationen. Vor allem aber geht es nicht mehr nur um einzelne Probleme. Proteste in der Vergangenheit haben sich etwa um Arbeitslosigkeit, Korruption oder Wahlfälschungen gedreht. Jetzt richtet sich der Widerstand ganz klar gegen das Regime. Die Menschen im Iran wollen das nicht mehr und trauen sich, das offen auszusprechen.
Das Kopftuch steht im Mittelpunkt, der Slogan der Bewegung ist «Frau, Leben, Freiheit.» Was bedeutet es, dass Frauen im Mittelpunkt der Proteste sind?
Espahangizi: Es ist überhaupt kein Zufall, dass das Kopftuch im Mittelpunkt steht. Es ist das Symbol der Unterdrückung und des Unrechtsstaats. Mit dem Hijab wird die Hälfte der Bevölkerung unterdrückt. Und der ganzen Bevölkerung gezeigt, was das Regime für eine Macht hat. Dazu ist es wichtig zu wissen: Das Kopftuch ist nicht einfach ein Teil der iranischen Kultur. Die Kopftuchpflicht wurde nach der Revolution von 1979 mit aller Brutalität eingeführt. Frauen, die sich weigerten, wurden bestraft und gefoltert. Es war eine bewusste und bösartige Machtdemonstration der islamistischen Führungsriege. Sie sagte damit: Wir zwingen euch ab jetzt, nach unseren Vorstellungen zu leben. Es geht deshalb nicht einfach um den Hijab. Die Menschen im Iran haben erkannt, dass es keine Freiheit für alle Iranerinnen und Iraner geben wird ohne die Freiheit der Frauen. Deshalb gibt es viele, die von einer feministischen Revolution sprechen. Einer Revolution gegen ein Regime, das allen die Freiheit genommen hat.
Sie benutzen bewusst Worte wie Regimewechsel und Revolution?
Espahangizi: Ja. In der Vergangenheit, etwa bei den Protesten 2009, forderten die Menschen im Iran Reformen des Systems. Und selbst das wurde brutal niedergeschlagen. Es ist ihnen bewusst geworden, dass es keine Reformen geben wird und es nur besser wird, wenn das Regime weg ist. In den Köpfen ist diese Revolution bereits vollzogen. Die Leute sehnen sich nach Werten, die der Schweiz nicht fremd sind: Freiheit und gleiche Rechte für alle, Demokratie. Sie wollen nichts anderes als die Freiheit über das eigene Leben zurückgewinnen, sie wollen machen können, was sie wollen. Es gibt auf Youtube ein Lied eines iranischen Künstlers, das auch als Hymne der Revolution bezeichnet wird. Es macht nichts anderes, als Wünsche der Leute aufzuzählen. «Für das Tanzen auf der Strasse. Für die Angst, sich zu küssen. Für meine, deine, unsere Schwestern. Für den Wechsel alter Werte. Die Sehnsucht nach einem normalen Leben.» Und so weiter. Es ist so mächtig, weil das ganz normale Dinge sind, nach denen sich alle sehnen. Deshalb sind die Leute auf der Strasse. Aber wir dürfen uns nichts vormachen. Die Mächtigen im Staat wehren sich mit aller Macht. Es sterben täglich Menschen auf den Strassen, und es wird noch viel Blut vergossen werden. Es gibt kein Zurück mehr. Trotz aller Repression kann man den Deckel nicht einfach wieder schliessen.
Die EU hat bereits Sanktionen ausgesprochen. Schwächen diese das Regime und helfen den Protestierenden?
Espahangizi: Die Menschen im Land riskieren täglich ihr Leben. Sie brauchen jede Unterstützung. Natürlich kann man jetzt lange über die Wirksamkeit einzelner Sanktionen diskutieren, und natürlich braucht es da noch mehr. Es ist aber auch enorm wichtig, dass die internationale Gemeinschaft den Iraner:innen zeigt, dass sie hinter ihnen steht. Dass sie (die internationale Gemeinschaft) ihnen aufzeigt, dass das Regime in Teheran nicht nur vor ihnen, sondern vor der ganzen Welt seine Legitimität verloren hat. Der ehemalige US-Präsident Obama hat in den letzten Tagen zugegeben, dass es 2009 ein Fehler war, sich nicht viel klarer zu positionieren, und er hat sich dafür entschuldigt. Das alles sind gute Signale, aber es braucht noch viel mehr Druck. Und noch mehr Sanktionen.
Die Schweiz hat sich bis jetzt svornehm zurückgehalten. Wie könnte die Schweiz einen Beitrag leisten?
Espahangizi: Die Zurückhaltung der Schweiz ist sehr schade. Die Schweiz hat ein hohes Ansehen und repräsentiert in der iranischen Welt genau diejenigen Werte, für die die Protestierenden kämpfen: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Diese Vorstellung bringt eine Verantwortung mit sich, der sich die Schweiz bewusst sein muss. Sie muss diese Verantwortung jetzt übernehmen und mit den Iraner:innen für die gemeinsamen Werte kämpfen. Auf den Strassen sterben täglich Menschen. Die Iraner:innen wollen klare Ansagen und Positionen und keine lauen Tweets einzelner Behörden. Die Schweiz lobt sich gerne für ihre guten Dienste. Das wäre möglich: Wieso nicht eine Konferenz organisieren, in der sich fortschrittliche Kräfte überlegen, wie ein moderner, demokratischer Iran aussehen könnte? Und wo die Schweiz klar Position für die fortschrittlichen Kräfte und gegen das Regime bezieht.
Nicht zuletzt müsste die Schweiz ein ureigenes Interesse daran haben, dass sich im Iran die Ideale von Freiheit und Demokratie durchsetzen. Die aktuelle Regierung ist seit 43 Jahren Kriegstreiberin und destabilisiert die ganze Region. Gleichzeitig verfügt der Iran über die zweitgrösste Erdgasreserve der Welt. Nicht davon zu sprechen, was für ein Markt ein Land mit 85 Millionen Menschen sein könnte. Wer wirklich das Gefühl hat, dass die aktuelle Regierung, die Seite an Seite mit Putin für Krieg und Unterdrückung steht, für die Schweiz gut ist, der hat etwas nicht verstanden. Die Menschen im Iran kämpfen genauso wie die Menschen in der Ukraine für Freiheit und Demokratie. Wir müssen ihnen mit allen Möglichkeiten den Rücken stärken. Das Mindeste, was die Schweiz jetzt tun muss, ist ein klares und unmissverständliches Signal an die Iraner:innen auszusenden und zu sagen «Wir stehen hinter euch!»