
Mit der Vermittlung der USA, Katar, der Türkei und Ägypten haben sich Israel und die Hamas auf eine Waffenruhe in Gaza geeinigt. Die in Gaza verbleibenden Geiseln sind freigekommen, knapp 2000 gefangene Palästinenser:innen wurden ebenfalls freigelassen. Die israelische Armee muss sich auf eine vereinbarte Linie zurückziehen. Auch der Zugang zu humanitärer Hilfe im Gazastreifen soll gewährleistet werden.
Die Angehörigen und die Freigelassenen können nun endlich aufatmen. Doch wie geht es jetzt weiter? Vieles ist aktuell noch unklar. «direkt» hat bei Friedensforscher Roland Dittli nachgefragt, was es jetzt braucht, damit aus der Waffenruhe ein stabiler und gerechter Frieden entsteht.
«direkt»: Die Hamas und Israel haben sich auf eine Waffenruhe und erste Schritte zu Umsetzung des Friedensplans geeinigt. Für wie realistisch halten Sie es, dass diese eingehalten werden?
Roland Dittli: Stand heute bin ich da recht optimistisch. Diese kurzfristigen und sehr wichtigen Massnahmen – Waffenruhe, Austausch von Geiseln und Gefangenen, erster Rückzug der israelischen Armee, Lieferung grossangelegter humanitärer Hilfe – werden wohl tatsächlich endlich umgesetzt.

«direkt»: Basis der Verhandlungen bildet ein 20-Punkte-Plan der USA, der gemeinsam mit Israel ausgearbeitet wurde. Die palästinensische Seite konnte sich vorgängig nicht dazu äussern. Kann ein solcher Plan nachhaltig zu Frieden und Gerechtigkeit führen?
Roland Dittli: Über die längerfristigen Erfolgsaussichten bleibe ich etwas skeptisch. Die jetzt angegangenen Schritte sind eigentlich dem «Konfliktmanagement» zuzuordnen, also der Reduzierung von direkter Gewalt und dem Schaffen eines Verhandlungsraums. Ob dieser Raum nun tatsächlich genutzt wird, um eine gerechte und tragfähige Friedenslösung zu skizzieren, wird sich erst noch weisen müssen.
swisspeace ist ein unabhängiges, praxisorientiertes Institut der Friedensforschung und
-förderung. Die Stiftung analysiert bewaffnete Konflikte und entwickelt Strategien für deren nachhaltige Beilegung. Ziel des Instituts ist, einen Beitrag zur Verbesserung von Konfliktprävention und -transformation zu leisten.
«direkt»: Welche konkreten Probleme weist der Plan auf?
Roland Dittli: Die Ausgangslage ist enorm einseitig. Keine palästinensische Partei war in die Ausarbeitung involviert. Zudem kann gar nicht von einem richtigen Plan gesprochen werden. Es handelt sich eher um einen Plan von einem Plan – eine Art Absichtserklärung, die zudem regelrecht als Ultimatum präsentiert wurde.
«Im Plan geht es nur um Gaza. Ostjerusalem und das Westjordanland werden gar nicht erwähnt. Es wird aber keinen nachhaltigen Frieden geben, wenn dort weiterhin Menschen vertrieben und getötet werden.»
«direkt»: Meinen Sie damit, dass vieles unklar bleibt?
Roland Dittli: Genau, wichtige Punkte sind sehr schwammig formuliert. Auf welche Linien und bis wann zieht sich die israelische Armee zurück? Wer entscheidet, ob abgemachte Bedingungen erfüllt sind? Was genau bedeutet Entwaffnung und an wen sollen die Waffen abgegeben werden? Welche Zusammensetzung, Aufgabe und Zuständigkeiten hat die zu schaffende internationale Stabilisierungstruppe? Was ist der Fahrplan in Richtung eines palästinensischen Staates, wann sind Palästinenser:innen endlich frei? Und so weiter. In den zwanzig Punkten spielt das Völkerrecht zudem praktisch keine Rolle und es gibt auch eine eindeutig koloniale Anwandlung die stark aus der Zeit gefallen ist. Über die Köpfe der Palästinenser:innen soll ein internationales Gremium installiert werden – besetzt mit dem ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair, der bekanntlich wegen seiner Rolle im Irakkrieg und als Sondergesandter des Nahost-Quartetts von 2007 bis 2015 für die Palästinenser:innen ein rotes Tuch ist. Trump wollte in seiner gewohnten Manier schnell etwas Grosses verkünden – der Qualität hilft das leider nicht.
«direkt»: Was bedeutet der Plan für die Menschen im Westjordanland und in Ostjerusalem?
Roland Dittli: Im Plan geht es nur um Gaza. Ostjerusalem und das Westjordanland werden gar nicht erwähnt. Es wird aber keinen nachhaltigen Frieden geben, wenn dort weiterhin Menschen vertrieben und getötet werden, auch wenn es in Gaza zu einem langfristigen Waffenstillstand kommen sollte. Man muss alle besetzten palästinensischen Gebiete als Einheit betrachten und auch so behandeln. Sonst funktioniert das über einen Waffenstillstand hinaus nicht längerfristig.
«direkt»: Was braucht es jetzt, damit langfristig Frieden und Gerechtigkeit etabliert werden kann?
Roland Dittli: Es braucht einen gemeinsamen Prozess, dem alle Parteien vertrauen können. In diesen Prozess müssen alle relevanten Akteure einbezogen sein, und es braucht eine fähige und glaubwürdig neutrale Vermittlungskraft. Dazu müssen nach dem fast grenzenlosen Töten und Zerstören der letzten zwei Jahre die zentralen Normen und Spielregeln für die Zukunft und einen hoffentlich entstehenden Friedensprozess wieder neu etabliert werden. Zum Beispiel: Niemand wird vertrieben, Gewalt kann diesen Konflikt nicht lösen und internationales Recht muss respektiert sein.
«direkt»: Neben den USA, Katar, Ägypten und der Türkei – was kann die internationale Gemeinschaft jetzt beitragen?
Roland Dittli: Sie kann auf zwei Ebenen beitragen: erstens, sich pro-aktiv mit politischem Kapital einbringen, damit ein Prozess wie oben skizziert überhaupt entsteht und sie darin bestimmend mitwirkt. Das Steuer darf nicht allein bei den USA und ihrem Alliierten Israel bleiben, wenn man denn etwas aus den gescheiterten Friedensbemühungen der Vergangenheit lernen will.
«Die Schweiz sollte versuchen, ihre Glaubwürdigkeit als Verfechterin des internationalen Rechts wieder herzustellen. Zum Beispiel in dem sie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahndet.»
«direkt»: Und zweitens?
Roland Dittli: Neben den zehntausenden von getöteten Menschen in der Region war ein weiteres Opfer dieser Gewaltorgie das internationale Recht und insgesamt der Glauben an eine regelbasierte internationale Ordnung. Hier können die internationale Gemeinschaft und einzelne Länder weitere Massnahmen treffen. Es ist eminent wichtig, dass man sich jetzt angesichts des Waffenstillstands und den doch eher pompösen Friedensverlautbarungen nicht zurücklehnt, sondern weiterhin darauf drängt, internationales Recht durchzusetzen. Kriegsverbrechen und Kriegsverbrecher dürfen nicht straffrei bleiben. Länder wie Belgien, Irland oder Spanien haben sich in diese Richtung bewegt. Das müsste noch von weiteren Ländern fortgeführt werden.
«direkt»: Was könnte die Schweiz tun?
Roland Dittli: Die Schweiz war bis vor wenigen Jahren in der Region bekannt als verlässliche Partnerin für Frieden und Entwicklung. Dieser Ruf hat gelitten. Sie hat UNRWA Gelder gestrichen. Auch die langjährige Partnerschaft mit Menschenrechtsorganisationen in der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaft ist heute geschwächt. Zudem hat sie wenig Anstalten gemacht, die verschiedenen Handlungsaufforderungen und Urteile des Internationalen Gerichtshofs im ersten Halbjahr 2024 in eigene Massnahmen zu übersetzen. Darin werden alle Staaten verpflichtet, sicherzustellen, dass sie die rechtswidrige Präsenz Israels in den palästinensischen Gebieten weder anerkennen noch unterstützen. Für all das ist es aber nicht zu spät. Das heisst konkret: die Schweiz kann sich verstärkt wieder humanitär betätigen sowie die Unterstützung für die lokale Zivilgesellschaft als enorm wichtige Garantiekräfte für Frieden und Menschenrechte wieder aufnehmen. Sie kann ihre grosse Erfahrung in Vermittlung, Friedensförderung und Dialogprozessen zur Verfügung stellen. Und sie sollte versuchen, ihre Glaubwürdigkeit als Verfechterin des internationalen Rechts wieder herzustellen. Zum Beispiel in dem sie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahndet.
«direkt»: Im Vergleich zu einigen europäischen Staaten verhielt sich die Schweiz grundsätzlich sehr passiv, wenn es um Kritik an Israels Vorgehen in Gaza ging. Hätte sie sich als Depositarstaat der Genfer Konventionen – die Grundlagen des Völkerrechts – anders verhalten müssen?
Roland Dittli: Das internationale Recht kann sich nicht selbst durchsetzen. Es ist nur so stark, wie die Akteure und Staaten, die gewillt sind, es wirklich anzuwenden. Die Schweizer Glaubwürdigkeit hat diesbezüglich gelitten. Ein extremistischer israelischer Siedler kann zum Beispiel im Westjordanland einen palästinensischen Bauern erschiessen und dessen Herde stehlen, am nächsten Tag dann zur Entspannung in die Schweiz fliegen oder hier Geld für das illegale Siedlungsunterfangen sammeln. Das ist nicht zeitgemäss. Es entspricht nicht dem Selbstbild, das wir von der Schweiz haben. Und es entspricht nicht unseren aussenpolitischen Interessen als Kleinstaat. Obwohl ich schon auch sehe, dass in der heutigen veränderten Weltordnung das Risiko für Kleinstaaten gestiegen ist.
«Es braucht friedenspolitisches Engagement, auch von der Schweiz, damit die illegale israelische Besatzung aufhört und Palästina endlich ein eigenständiger, freier Staat wird.»
«direkt»: Dieses hat sich seit der Wahl von Donald Trump in den USA weiter verstärkt.
Roland Dittli: Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Schweiz auch deshalb für das internationale Recht nicht so in die Bresche wirft, weil man keine Retourkutsche riskieren will. Also, dass Herr Trump zum Beispiel nochmals 20 Prozent Zölle für die Schweiz obendrauf schlägt. Aber das konsequente Nicht-Handeln des Bundesrats ist angesichts der massiven Kriegsverbrechen und Genozid-Vorwürfen einfach nicht mehr vermittelbar. Auch innenpolitisch nicht.
«direkt»: Sie sprechen von den vermehrten Protesten?
Roland Dittli: Die Orgie der Gewalt und Zerstörung in Gaza hat ein Echo auch hier in der Schweiz. Es ist selten für internationale Gewaltkonflikte, dass sie derart stark in unserer eigenen Gesellschaft abgebildet werden, insbesondere auf derart polarisierte, geradezu toxische Art. Hier hätte ich mir mehr Führung erhofft – auch eine nuanciertere Debatte. Ich habe den Eindruck, dass wir eine zwei Jahre andauernde Arena-Sendung hinter uns haben, in der es sehr laut und emotional darum geht, dass die eigene Position gewinnt. Aber es sollte bei uns nicht ums gewinnen gehen, sondern ums «Lösen» des Konflikts. Und diese Lösung ist – um auf den Trump Plan zurückzukommen – eben kein Selbstläufer. Es braucht friedenspolitisches Engagement, auch von der Schweiz, damit die illegale israelische Besatzung aufhört und Palästina endlich ein eigenständiger, freier Staat wird. Und es braucht ein Ende der Straffreiheit Israels sowie die konsequente Ahndung der Kriegsverbrechen. Dann kommen wir einem tatsächlichen Frieden in der Region tatsächlich näher.