«direkt»: Shirine Dajjani, die Bilder und Berichte aus dem Gazastreifen sind kaum zu ertragen. Sie haben Verwandte und Bekannte dort. Wie gehen Sie mit der aktuellen Situation um?
Shirine Dajjani: Was derzeit in Gaza passiert, ist unglaublich schlimm. Und es wird jeden Tag schlimmer. Wenn ich Nachrichten von meinen Bekannten vor Ort erhalte, frage mich, wie viel Leid können die Menschen noch ertragen. Die israelische Armee geht mit unglaublicher Gewalt vor, als hätten sie komplett die Kontrolle verloren. Innerhalb von einer Woche haben sie 700 Menschen getötet – Mütter, Väter, Freund:innen, Kinder. Und die Menschen, die nicht getötet wurden: Sie sind krank, hungrig, schlafen seit Monaten in Zelten. Sie müssen sich in Schlangen stellen, um etwas Wasser oder Essen zu erhalten. Ich kann einfach nicht glauben, dass die internationale Gemeinschaft nicht schon längst eingegriffen hat und es so weit hat kommen lassen.

«Es gibt in Gaza immer noch Journalist:innen, die jeden Tag ihr Leben riskieren und über die Situation berichten. Die Schweizer Medien haben es lange verpasst, diese Menschen zu kontaktieren. Stattdessen haben sie oft die offizielle Kommunikation der israelischen Regierung unkritisch verbreitet.»
«direkt»: Die israelische Armee verstösst im Gazastreifen gemäss internationalem Gerichtshof in Den Haag massiv gegen das humanitäre Völkerrecht. Amnesty International spricht sogar von Völkermord. Trotzdem findet die palästinensische Perspektive in der Deutschschweizer Berichterstattung kaum Beachtung. Woran liegt das?
Shirine Dajjani: Es hat extrem lange gedauert, bis die Deutschschweizer Medien über die Situation der Menschen in Gaza berichtet haben. Seit Oktober 2023 wurden sie entmenschlicht oder nur als Zahlen abgebildet. Es gab kaum je ein Portrait einer Person, die ihre Geschichte erzählen kann. Auch wenn die israelische Regierung den Gazastreifen für Journalist:innen abgeriegelt hat: Es gibt in Gaza immer noch Journalist:innen, die jeden Tag ihr Leben riskieren und über die Situation berichten. Die Schweizer Medien haben es lange verpasst, diese Menschen zu kontaktieren. Stattdessen haben sie oft die offizielle Kommunikation der israelischen Regierung unkritisch verbreitet. Dabei haben die Medien die Verantwortung, neutral zu berichten und die Lebensrealität der Menschen abzubilden! Es ist ihre Pflicht, die Palästinenser:innen zu «vermenschlichen». Sie müssen erzählen, wie es heute für ein Kind ist, in Gaza zu leben. Was ein Vater oder eine Mutter unter den ständigen Angriffen erleben muss, Tag für Tag.
«Ich spüre auch, dass meine Tochter Angst hat. Einmal hat sie mich gefragt, warum sie in Gaza Kinder töten. Ich konnte ihr keine Antwort geben.»
«direkt»: Für Menschen in der Schweiz, die sich nicht vertieft mit der Situation in Gaza und dem Nahost-Konflikt befassen, bleibt abstrakt, was derzeit geschieht. Was macht das mit der palästinensischen Community in der Schweiz?
Shirine Dajjani: Es ist ein kollektives Trauma. Wir sehen die Bilder oder bekommen Nachrichten von unseren Familien oder Bekannten aus Gaza. Das ist unglaublich schmerzhaft. Gleichzeitig müssen wir im Alltag funktionieren. Ich muss arbeiten und habe einen eine achtjährige Tochter. Deshalb muss ich die Trauer und die Gefühle vom Alltag trennen. Trotzdem ist diese unglaubliche Trauer immer da.
«direkt»: Wie gehen Sie damit um?
Shirine Dajjani: Ich gehe viel an Kundgebungen oder tausche mich mit meinen Freund:innen aus. Ich spüre auch, dass meine Tochter Angst hat. Einmal hat sie mich gefragt, warum sie in Gaza Kinder töten. Ich konnte ihr keine Antwort geben. Wenn ich sie ins Bett bringe, denke ich an die Mütter und Väter, die seit Monaten mit ihren Kindern in Zelten schlafen müssen und nicht wissen, ob sie am Morgen wieder aufwachen oder ob diese Nacht ihr Zeltlager von der israelischen Armee in Schutt und Asche gelegt wird.
«Die Schweiz als Teil der internationalen Gemeinschaft und als Depositarstaat der Genfer Konventionen steht in der Pflicht, jetzt zu handeln. Es braucht vehementen Druck auf die israelische Regierung. Es ist unfassbar, dass sie überhaupt so weit gehen konnte, ohne aufgehalten zu werden.»
«direkt»: Sie haben die Organisation Palestine Solidarity Switzerland mitgegründet. Zusammen mit anderen Organisationen haben Sie nun einen Appell an den Bundesrat gerichtet. Die Forderung: Der Bundesrat muss jetzt endlich alles in seiner Macht Stehende tun, um die Angriffe auf Gaza zu stoppen.
Shirine Dajjani: Swiss Humanity Initiative hat den Appell zusammen mit Palestine Solidarity Switzerland, der Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina und mit Amnesty International initiiert. Mehr als hundert Persönlichkeiten aus Politik, Diplomatie und Wissenschaft haben den Brief unterzeichnet – darunter auch die alt Bundesrätinnen Ruth Dreifuss und Micheline Calmy-Rey. Unsere Forderung: Der Bundesrat muss jetzt handeln. Die Zeit der schwachen Statements ist vorbei. Die Schweiz als Teil der internationalen Gemeinschaft und als Depositarstaat der Genfer Konventionen steht in der Pflicht, jetzt zu handeln. Es braucht vehementen Druck auf die israelische Regierung. Es ist unfassbar, dass sie überhaupt so weit gehen konnte, ohne aufgehalten zu werden.
«Ich habe in den letzten anderthalb Jahren an vielen Demonstrationen teilgenommen. Und immer waren jüdische Menschen mit dabei. Auch wenn die Medien oft ein anderes Bild vermitteln: An diesen Demonstrationen gibt es keinen Platz für Antisemitismus.»
«direkt»: Die Jüdische Stimme für gerechten Frieden und Palestine Solidarity haben den Brief gemeinsam verfasst. Glaubt man den vielen Medienberichten, ist eine solche Zusammenarbeit kaum denkbar.
Shirine Dajjani: Die jüdische, die palästinensische und die schweizerische Gemeinschaft ist heterogen. Es gibt viele unterschiedliche Meinungen. Es gibt viele jüdische und israelische Menschen, die es gleich sehen wie ich und wir arbeiten zusammen an der gleichen Vision. Letztes Jahr, nach dem Messerangriff auf einen orthodoxen jüdischen Mann in Zürich haben wir zum Beispiel zusammen eine Solidaritätskundgebung veranstaltet. Ich habe da auch eine Rede gehalten, weil es mir wichtig ist, meine Stimme gegen Antisemitismus zu erheben. Die NZZ hat uns Palästinenser:innen darauf hin als «falsche Freunde» bezeichnet.
«direkt»: Auch an Demonstrationen gegen den die israelischen Angriffe auf Gaza nehmen jüdische Menschen teil.
Shirine Dajjani: Ich habe in den letzten anderthalb Jahren an vielen Demonstrationen teilgenommen. Und immer waren jüdische Menschen mit dabei. Auch wenn die Medien oft ein anderes Bild vermitteln: An diesen Demonstrationen gibt es keinen Platz für Antisemitismus. Sonst würden meine jüdischen Freund:innen nicht daran teilnehmen.