«direkt»: Herr Tanner, inwiefern ist die neue SVP-Kündigungsinitiative (auch «10-Millionen-Schweiz-Initiative») mit der Schwarzenbach-Initiative aus den 70er-Jahren vergleichbar?
Jakob Tanner: James Schwarzenbach war in den 1930er-Jahren in der «Nationalen Front» aktiv, die in der Schweiz nationalsozialistisches Gedankengut verbreitete. Ende der 1960er-Jahre startete er mit der «Nationalen Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» seine fremdenfeindliche Volksinitiative. Bis zu 400’000 ausländische Arbeitskräfte hätten bei deren Annahme das Land verlassen müssen. Sie wurde im Juni 1970 mit nur 54 Prozent abgelehnt. Schon damals wurde von einer «10-Millionen-Schweiz» gesprochen.
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«direkt»: In welchem Zusammenhang?
Jakob Tanner: 1970 legte der St. Galler Wirtschaftsprofessor und Futurologe Francesco Kneschaurek eine Perspektivstudie vor, in der er ein rasantes Bevölkerungswachstum prognostizierte. In Medien und Politik machte umgehend das Schlagwort von der «10-Millionen-Schweiz» die Runde.
«Die SVP-Initiative ist klar antieuropäisch. Wenn die Stimmbevölkerung der Initiative zustimmen würde, wäre dies das Ende der Personenfreizügigkeit.»
«direkt»: Wie hat sich das ausgewirkt?
Jakob Tanner: Gesamtplanung und Zukunftsleitbilder standen stark im Bann dieser Wachstumsperspektive. Es war die Zeit der Fortschrittseuphorie und des Glaubens an einen ewigen konjunkturellen Aufschwung. Schwarzenbach sah darin eine Gefahr. Er hielt Kneschaurek für einen Spinner, der die Schweiz kaputt machen will. Sie sehen: Die Debatte um die 10-Millionen-Schweiz ist nicht neu.
«direkt»: Sind demnach auch die Forderungen der SVP-Initiative nicht neu?
Jakob Tanner: Schwarzenbach verfolgte mit seiner «nationalen Aktion» drei Ziele: Er wollte das «Schweizervolk» vor «Überfremdung» und die schweizerische Landschaft vor Übervölkerung schützen. Zudem wollte er die Schweiz aus dem europäischen Integrationsprozess heraushalten. Vergleichen wir das mit der aktuellen Begrenzungsinitiative, erkennen wir eine starke Überschneidung. Beide Initiativen gaukeln illusorische Problemlösungen vor. Und auch die SVP-Initiative ist klar antieuropäisch. Wenn die Stimmbevölkerung der Initiative zustimmen würde, wäre dies das Ende der Personenfreizügigkeit.
«Schwarzenbach war Vorkämpfer für eine neue fremdenfeindliche Ideologie. Alice Weidel reiht sich rund 60 Jahre später in diese Linie des rechtsextremen Gedankenguts ein.»
«direkt»: Warum wäre das aus Sicht der Initiant:innen erstrebenswert?
Jakob Tanner: Die grossen Arbeitgeber:innenverbände wissen natürlich, dass die Schweizer Wirtschaft sehr stark mit der EU verflochten ist und diese ohne Einwanderung nicht funktionieren würde. Jene, welche diese Initiative unterstützen, wollen die Rechte und auch die Löhne dieser Arbeitsmigrant:innen reduzieren. Zugleich geht es um die Absicherung eines nationalen Geschäftsmodells, das EU-Regulierungen als hinderlich betrachtet. Insbesondere bei der internationalen Vermögensverwaltung und beim Rohstoffhandel. Vertreter:innen dieser Branchen predigen die «Unabhängigkeit» der Schweiz. Darunter verstehen sie das Recht eines kleinen Landes, Geschäfte zu machen, die in der EU mit guten Gründen reguliert und verboten wurden.
«direkt»: Auch andere europäische Länder träumen von Abschottung. In Deutschland sind am 23. Februar Wahlen. War Schwarzenbach der Vorläufer von AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel?
Jakob Tanner: Schwarzenbach war Vorkämpfer für eine neue fremdenfeindliche Ideologie. Das war damals neu für Europa. Er verschob die Grenzen des Sagbaren in Richtung Rassismus und Missachtung von Völkerrecht und Menschenrechten. Alice Weidel reiht sich rund 60 Jahre später in diese Linie des rechtsextremen Gedankenguts ein. Sie hat die AfD in den vergangenen Jahren nochmals nach rechts radikalisiert.
«direkt»: Gibt es noch andere Parallelen?
Jakob Tanner: Wie Schwarzenbach hat auch Weidel einen wirtschaftsliberalen Drive: Der Staat soll zurückgestutzt werden und die Privatwirtschaft mehr Freiraum erhalten. Wie Schwarzenbach vertritt sie ein völlig untaugliches und nicht finanzierbares wirtschaftspolitisches Programm. Schwarzenbach gab sich als «Gentlemen-Politiker», für Weidel ist «Hardlinerin im Businesslook» treffend.
«In der Schweiz, in Deutschland und im übrigen Europa sowie in den USA werden nationalistische und rechtsextreme Positionen in Richtung Mitte verschoben und erscheinen als neues Normal.»
«direkt»: In Deutschland wird oft von der sogenannten Brandmauer gesprochen, welche die demokratischen Institutionen gegen den Rechtsradikalismus schützen soll. Existiert hierzulande auch eine solche Brandmauer?
Jakob Tanner: Die Metapher ist statisch und für die Schweiz wenig tauglich, weil das fremdenfeindliche Narrativ hier von der SVP vertreten wird, die seit langem auf allen Ebenen des Föderalismus etabliert ist. Die SVP ist in Konkordanzregierungen eingebunden, im Bundesrat schon seit fast 100 Jahren. Das unterscheidet sie von der vergleichsweise sehr jungen AfD. Und auch in der Erinnerungskultur positionieren sich die beiden Parteien anders: In Deutschland wird die AfD von einem geschichtsrevisionistischen Lager beherrscht, das Hitler und den Holocaust relativiert, während die SVP stets die vorbildlich neutrale Rolle der Schweiz im Kampf gegen den Nationalsozialismus betont. Sie wehrte sich jedoch beharrlich gegen die Aufarbeitung der Verstrickungen der Schweiz in das NS-Regime und verhält sich damit ebenfalls reaktionär.
«Ganz allgemein gesprochen, geht es um die Verteidigung der Demokratie, die sich eben gerade nicht als ‹völkische Gemeinschaft›, als Kurzschliessung von Volk und Führer begreifen darf, sondern die Menschenrechte hochhalten muss.»
«direkt»: Welche Entwicklungen in der Schweiz sind denn mit jenen in Deutschland vergleichbar?
Jakob Tanner: In der Schweiz, in Deutschland und im übrigen Europa sowie in den USA werden nationalistische und rechtsextreme Positionen in Richtung Mitte verschoben und erscheinen als neues Normal. In der BRD grenzt sich der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz zwar rhetorisch gegen die AfD ab, übernimmt aber inhaltlich deren Forderungen. So wird die Brandmauer zur Farce. Auch in der Schweiz verschiebt sich das politische Gravitationsfeld immer stärker nach rechts.
«direkt»: Haben Sie ein bestimmtes Beispiel im Kopf?
Jakob Tanner: Wenn Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter die antieuropäische Rede des amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz als «Plädoyer für die direkte Demokratie» und als «in gewissem Sinne sehr schweizerisch» bezeichnet zum Beispiel. Das ist eine Anbiederung nach rechts.
«direkt»: Welche Möglichkeiten haben wir in der Schweiz, um gegen den wachsenden Rechtsextremismus anzukämpfen?
Jakob Tanner: Ganz allgemein gesprochen, geht es um die Verteidigung der Demokratie, die sich eben gerade nicht als «völkische Gemeinschaft», als Kurzschliessung von Volk und Führer begreifen darf, sondern die Menschenrechte hochhalten muss. Demokratische Gesellschaften sind auf funktionierende Medien, auf professionellen Journalismus, auf transparente Finanzierung angewiesen.
«Es entsteht der Eindruck, mit nationalen Grenzkontrollen und einer ‹Festung Europa› könnten wir hier endlich im Frieden leben.»
«direkt»: Wo sehen sie die grössten Gefahren für die demokratischen Gesellschaften?
Jakob Tanner: Dass sie an den zentralen Problemen der Gegenwart vorbeipolitisieren und in medial hochgefahrenen Ängsten festfahren. Es geht also darum, die Aufgaben, welche die Politik lösen soll, demokratisch zu bestimmen. Das ist in einer medialen Öffentlichkeit, die gerade unter der Kontrolle von grossen Tech-Konzernen umgebaut wird, schlecht möglich. Das Manipulationspotential, das zynischerweise «Meinungsfreiheit» genannt wird, ist sehr gross. Der Politik muss es gelingen, diese Tech-Giganten als Medienkonzerne zu behandeln, sodass sie entsprechend reguliert werden können.
«direkt»: Der Klimawandel scheint die Menschen nicht halb so fest zu bewegen wie die Migration.
Jakob Tanner: Ja, es gibt eine klare Fokussierung auf die Zuwanderung. Schreckliche Ereignisse werden medial so stark in den Mittelpunkt gerückt, dass sie alles andere überstrahlen. Es entsteht der Eindruck, mit nationalen Grenzkontrollen und einer «Festung Europa» könnten wir hier endlich im Frieden leben. Angesichts der Tatsache, dass europäische Länder heute Einwanderungsgesellschaften sind, ist das eine verzerrte Wahrnehmung, die auch den Blick auf die Klimakrise verstellt.
«direkt»: Was können wir dagegen tun?
Jakob Tanner: Die Frage ist, welche politischen Kräfte über die Definitionsmacht verfügen. Sind es jene, die den ökologischen Umbau der Wirtschaft vorantreiben, die soziale Ungleichheit bekämpfen, sich konstruktiv mit neuen Technologien auseinandersetzen – oder sind es populistische Parteien, die alle diese Probleme ausblenden und ihre Kampagnen auf Ressentiment, Fremdenhass und Diskriminierung aufbauen. Eine demokratische Politik, die auf Wissen basiert und wissenschaftliche Erkenntnisse ernst nimmt, ist sehr anspruchsvoll. Wir dürfen dieses Projekt aber nicht aufgeben. Ich bin für einen illusionslosen Optimismus, der Widersprüche nicht überspielt.