Es ist falsch, das Klima-Urteil zu ignorieren

National- und Ständerat fordern, dass der Bundesrat dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Klage der Klimasenior:innen nicht weiter Folge leistet. «direkt» beleuchtet vier Gründe, warum das falsch und gefährlich ist.

Aktion vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am 9. April 2024. Foto: Jean-Francois Badias (AP Photos)

Nach dem Ständerat fordert auch der Nationalrat, das Klima-Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu ignorieren. Gemäss dem Urteil macht die Schweiz nicht genug, um ihre Bevölkerung und insbesondere ältere Menschen vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen.

Vergebens wehrten sich die linken Parteien im Stände- und Nationalrat gegen die Missachtung des internationalen Gerichtsurteils. Warum das Gebaren des Parlaments höchst problematisch ist.

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Schwächung der Menschenrechte

Genau vor fünfzig Jahren hat die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert. Darin verankert sind Grundrechte wie das Recht auf Leben und das Recht auf Achtung des privaten oder Familienlebens. Mit dem aufstrebenden Rechtsextremismus in ganz Europa kommen die Menschenrechte immer stärker unter Druck. Bisher haben nur Länder wie Russland und in einigen Bereichen die Türkei Urteile des EGMR ignoriert. Wenn jetzt das Parlament fordert, dass die Schweiz dem Urteil des Gerichtshofs nicht Folge leisten soll, sendet dies ein verheerendes Signal an ganz Europa: Die Menschenrechte werden zum Selbstbedienungsladen. Wem ein Urteil nicht passt, kann dieses getrost ignorieren – die Schweiz hat es vorgemacht. Warum sollten sich also Staaten noch daranhalten, die es sowieso schon nicht so genau nehmen mit den Menschenrechten? Im aktuellen politischen Klima ist dies eine verheerende Botschaft und steht diametral dem gegenüber, was von einem fortschrittlichen, demokratischen Land zu erwarten wäre: Die Menschenrechte sind nicht verhandelbar.

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Gewaltentrennung kommt unter Druck

Die Gewaltentrennung ist ein zentrales Element einer funktionierenden Demokratie. Sie besteht aus Rechtssetzung (Legislative), Vollzug (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative). Diese drei Elemente müssen in den Händen voneinander unabhängiger Behörden liegen. Mit der Erklärung des Parlaments, das Urteil des EGMR zu ignorieren, wird der Bundesrat aufgefordert die Gewaltentrennung zu übergehen. Altbundesrichter Niccolò Raselli wagt einen für die Schweiz sehr unrühmlichen Vergleich in der Wochenzeitung WoZ: «Das ständerätliche Vorgehen erinnert an Wladimir Putins Politik: Dieser hatte ein Gesetz bestellt, wonach Entscheidungen des EGMR nicht umgesetzt werden dürfen, wenn sie mit der russischen Verfassung nicht vereinbar sind.» Mit anderen Worten: Die Aufforderung von National- und Ständerat an den Bundesrat, dem Urteil nicht Folge zu leisten, untergräbt nichts weniger als den Rechtsstaat.

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Schweiz bei CO2-Reduktion nicht auf Kurs

In der Erklärung von der kleinen und grossen Kammer wird behauptet, dass die Schweiz bereits viele Massnahmen ergriffen habe, um den Klimawandel zu bekämpfen. Tatsächlich: Mit dem Klimaschutzgesetz ist das Ziel des Pariser Klimaziels Netto-Null nun gesetzlich verankert und mit dem neuen Stromgesetz sollen die erneuerbaren Energien im grossen Stil ausgebaut werden. Aber: Ein Blick in die Zahlen zeigt, dass die Schweiz immer noch jedes Jahr mehr CO2-Emissionen in die Atmosphäre entlässt, als dies im Zeitplan zur Reduktion vorgesehen ist. Um die gesetzten Ziele zu erreichen, muss es jetzt vorwärts gehen – sonst wird das nichts mehr mit Netto-Null. Das unterstreicht auch das Urteil des EGMR. Entgegen der Ansicht des Ständerats müssen somit weitere Massnahmen ergriffen werden.

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Zunahme von Gesundheitsrisiken

Weiter kritisiert das Parlament, dass der EGMR die Menschenrechte zu dynamisch interpretiert. Damit hätte der Gerichtshof die zulässige Rechtsfortentwicklung durch ein internationales Gericht überstrapaziert. Dem Gerichtshof wird gar politischer Aktivismus vorgeworfen. Dies, obschon es der schweizerischen Rechtspraxis entspricht, Normen zeitgemäss auszulegen. Altbundesrichter Raselli schreibt dazu Folgendes: «Es ist deshalb nicht einzusehen, warum es abwegig sein soll, unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte, etwa der Achtung des Privatlebens, heute auch solche Massnahmen einfordern zu können, die dem Schutz des Lebens vor lebensbedrohlichen klimatischen Einwirkungen dienen.»

Dass die klimatischen Einwirkungen lebensbedrohlich sind, zeigen die vielen Todesfälle während Hitzewellen: Im Hitzesommer 2022 sind in der Schweiz über 600 Menschen als Folge der hohen Temperaturen gestorben. Das sind drei Mal mehr Hitzetote als im Durchschnitt in den Jahren 2009 bis 2017. 90 Prozent der Verstorbenen sind Menschen über 65 Jahren. Die allerhöchste Sterblichkeitsrate von allen weisen Seniorinnen auf.

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