Gewerkschaften alarmiert: Parlament will erstmals Löhne per Gesetz senken

Das Parlament diskutiert über die Aushebelung von kantonalen Mindestlöhnen. In manchen Branchen könnte das Lohneinbussen von bis zu 350 Franken pro Monat bedeuten. Die Gewerkschaften haben Widerstand angekündigt, sollte Mitte-Rechts das Gesetz durchwinken.

Foto: Urs Flueeler (Keystone)

Bei gleichbleibender Arbeit von heute auf morgen 350 Franken im Monat weniger verdienen? Klingt unfair. Doch genau das droht den Mitarbeiter:innen in Genfer Textilreinigungen, wenn sich bürgerliche Parteien und der Arbeitgeberverband durchsetzen. Denn die rechtsbürgerliche Seite will die kantonalen Mindestlöhne mit einem neuen Bundesgesetz aushebeln. Der Nationalrat wird in der Sommersession darüber debattieren.

Das neue Gesetz, das auf eine Motion von Mitte-Ständerat Erich Ettlin zurückgeht, ist perfide: Unter dem Vorwand einer gelebten Sozialpartnerschaft sollen die Mindestlöhne aus den allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen (GAV) gelten und nicht jene , die von der Stimmbevölkerung beschlossen wurden. Das heisst konkret: Es gilt der im GAV festgelegte Lohn – auch wenn dieser tiefer ist als der kantonale Mindestlohn.

Damit sind die Sozialpartner:innen nicht einverstanden. Der Gewerkschaftsbund kündet an, dieses Gesetz mit allen Mitteln zu bekämpfen, falls das Parlament dieses gutheissen sollte.

Zum ersten Mal: Lohnschutz soll verschlechtert werden

«Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz spielt das Parlament mit dem Gedanken, den Lohnschutz zu verschlechtern», so der Schweizerische Gewerkschaftsbund an seiner Medienkonferenz. Diese Verschlechterung betrifft tausende Angestellte überall in der Schweiz.

Unia-Präsidentin Vania Alleva rechnet vor, was den Arbeiter:innen in Genf, wo ein Mindestlohn von 23 Franken pro Stunde gilt, droht: «Eine gelernte Coiffeuse mit zwei oder drei Jahren Berufserfahrung verliert bis zu 250 Franken im Monat. Eine angelernte Mitarbeiterin in der Textilreinigung sogar über 350 Franken.» Auch im Gastgewerbe würden ausgebildete Fachangestellte über 200 Franken weniger verdienen.

Wenn Volksentscheide plötzlich nicht mehr gelten

Ein «gefährlicher Präzedenzfall» wäre auch die nachträgliche Aufhebung von Volksentscheiden in Neuenburg, Basel-Stadt, Genf, Tessin und im Jura. Gemäss Gewerkschaftsbund-Präsident Pierre-Yves Maillard «tritt das Gesetz unsere Verfassung und ihre Grundsätze mit Füssen».

Dank dem Föderalismus werden wichtige Entscheidungen auf jener Ebene getroffen, die den Bürger:innen am nächsten ist: Die Gemeinde oder der Kanton.

Keine Mindestlöhne, dafür Lohndumping?

Die Mindestlöhne sind ein wichtiges Instrument im Kampf gegen Lohndumping. Fällt dieses weg, so verliert die Schweiz gemäss den Gewerkschaften «eine wirksame Schutzmassnahme».

Für die Gewerkschaften ist auch klar: Wenn der Lohn die Existenz sichert, kommt dies der ganzen Gesellschaft zugute. Wenn die Löhne nicht zum Leben reichen, sind die Betroffenen auf Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe angewiesen – was die Allgemeinheit bezahlt.

Und wer profitiert? Ganz klar: Die Unternehmen. Hinter dem Angriff auf die Mindestlöhne stecken der Arbeitgeberverband und der Gewerbeverband (SGV), deren Mitglied Motion-Urheber Erich Ettlin ist. Der Mitte-Ständerat aus Obwalden sitzt in der Gewerbekammer des Gewerbeverbands, dem parlamentarischen Organ des SGV.

Weitere Mindestlöhne auf dem Weg

Weitere Mindestlöhne, gerade auf kommunaler Ebene, sind bereits aufgegleist: Die Städte Bern, Biel und Schaffhausen haben bereits eine Initiative für einen kommunalen Mindestlohn eingereicht. In Zürich und Winterthur wurden die Initiativen an der Urne bereits mit überwältigendem Mehr angenommen. Das passte dem rechtsbürgerlichen Gewerbeverband aber nicht in den Kram. Er blockiert die Umsetzung der Mindestlohn-Gesetze in schon fast amerikanischer Manier und geht in diversen Städten mit juristischen Mitteln gegen die Umsetzung der Volksentscheide vor. Das Ziel: blockieren, aufschieben – und profitieren.

Das ist ein allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsvertrag (ave GAV)

Ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ist eine Vereinbarung zwischen einem Arbeitgeber und der Gewerkschaft, die die Angestellten im Betrieb vertritt. Der GAV regelt die Mindestbestimmungen zu den Arbeitsbedingungen wie Gehalt oder Arbeitszeit. Soll ein GAV nicht nur für einen Betrieb gelten, etwa um gleich lange Spiesse für alle zu schaffen oder Tieflöhne und Lohndumping zu verhindern, können Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände beim Bundesrat eine sogenannte Allgemeinverbindlicherklärung beantragen. Dazu müssen gewisse Kriterien erfüllt sein: Beispielsweise müssen mindestens 50 Prozent der Unternehmen in einem Arbeitgeberverband organisiert sein. Erhält ein GAV die Allgemeinverbindlicherklärung, gilt er für eine bestimmte Zeit für alle Angestellten und Arbeitgeber einer Branche oder Region sowie für ausländische Dienstleistende in der Schweiz. Grosse allgemeinverbindliche GAV gibt es beispielsweise in der Gastronomie oder dem Bauhauptgewerbe.

 


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