«Patriarchale Gewalt geht uns alle etwas an»

Zum Start der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» rufen über 90 Organisationen zu einer nationalen Demonstration am 23. November auf. Im Interview mit «direkt» erklärt Anna-Béatrice Schmaltz von Frieda, der feministischen Friedensorganisation, warum es diese nationale Kundgebung braucht und worum es bei der 16 Tage Kampagne geht.

Seit 2008 finden in der Schweiz jedes Jahr die «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt. 16 Aktionstage, um zu geschlechtsspezifischer Gewalt zu sensibilisieren. Initiiert wurde das Projekt in der Schweiz sowie Lichtenstein von der feministischen Friedensorganisation Frieda (ehemals cfd). Dieses Jahr findet zu Beginn der Aktionstage eine nationale Demonstration statt, zu der über 90 Organisationen aufrufen. «direkt» hat mit Anna-Béatrice Schmaltz, Projektleiterin der «16 Tage»-Kampagne bei Frieda gesprochen.

«direkt»: Frau Schmaltz, Ende August haben zahlreiche feministische Organisationen Alarm geschlagen und zu einer nationalen Demonstration im Rahmen der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» aufgerufen. Weshalb braucht es eine Demo?

Anna-Béatrice Schmaltz: Alle zwei Wochen wird in der Schweiz eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Das ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Letztes Jahr zählte die Opferhilfestatistik 49‘055 Beratungen und die Nachfrage steigt seit Jahren. Geschlechtsspezifische Gewalt ist in der Schweiz trauriger Alltag. Und trotzdem fehlt es an politischer Priorisierung, genügend Unterstützung für Betroffene und Ressourcen für Präventionsarbeit.

«Wir fordern Bund und Kantone dazu auf, die Bekämpfung von häuslicher, sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt endlich als politische Priorität einzustufen.»

Mit dieser Demonstration wollen wir ein starkes Zeichen setzen. Denn um geschlechtsspezifische Gewalt nachhaltig zu verhindern und Gewaltbetroffene adäquat zu unterstützen, braucht es endlich konsequente Massnahmen! Wir wollen Gesellschaft und Politik wachrütteln. Patriarchale Gewalt geht uns alle etwas an. Die Politik muss endlich ihre Verantwortung übernehmen und Opferschutz zur Priorität machen.

«direkt»: Was fordern die teilnehmenden Organisationen mit dem Aufruf?

Anna-Béatrice Schmaltz: Es braucht uns alle für den Einsatz für eine gewaltfreie Gesellschaft. Wir fordern Bund und Kantone dazu auf, die Bekämpfung von häuslicher, sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt endlich als politische Priorität einzustufen. Es braucht genügend Schutzplätze für Gewaltbetroffene. Die Schutzunterkünfte müssen nachhaltig finanziell gesichert sein. Weiter fordern wir Lösungen gegen die Geldnot in der Opferhilfe. Der Zugang zu Beratungsstellen und Schutzunterkünften muss für alle Gewaltbetroffenen, insbesondere auch für LGBTQIA+, Personen mit Behinderungen, geflüchtete, migrantische und rassifizierte Personen sichergestellt sein. Weiter braucht es Anschlusslösungen für Gewaltbetroffene.

«direkt»: Trump, ein verurteilter Sexualstraftäter wurde zum neuen US-Präsidenten gewählt. Was bedeutet dies für den Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt in der Schweiz?

Anna-Béatrice Schmaltz: Es zeigt, dass wir weiterhin laut unsere Forderungen stellen müssen. Betroffene von Gewalt werden auch in der Schweiz noch viel zu wenig ernst genommen und ihnen wird häufig eine (Teil-)Schuld zugeschoben. So wird gerade bei sexualisierter Gewalt häufig noch immer impliziert, dass die betroffene Person sich mehr hätte wehren müssen oder die Kleidung zu provokant war. Geschlechtsspezifische Gewalt wird verharmlost und bagatellisiert. Medien berichten über «Beziehungsdramen» und «Mord aus Liebe», anstatt die Tötungen von Frauen durch ihre Partner oder Ex-Partner als Feminizide zu bezeichnen.

Dies alles führt dazu, dass laut einer Studie von gfs.bern nur die Hälfte aller Betroffenen von sexualisierter Gewalt überhaupt mit jemandem darüber sprechen. Nur 10 Prozent wenden sich an die Polizei und nur 8 Prozent erstatten Anzeige. Das führt dazu, dass Betroffene nicht die Unterstützung erhalten, die sie brauchen und die auch ihr Recht ist.
Wir müssen als gesamte Gesellschaft mehr Verantwortung übernehmen im Einsatz gegen geschlechtsspezifische Gewalt und spezifisch die Verantwortungsübernahme von Tatpersonen einfordern.

«Der Nährboden für geschlechtsspezifische Gewalt ist fehlende Gleichstellung. Darauf bauen die Abwertung von Weiblichkeit, das Absprechen von Selbstbestimmung, sexuelle Belästigung, psychische Gewalt wie Isolation und Kontrolle und massivere Formen von Gewalt wie Vergewaltigung und Feminizide.»

«direkt»: Erleben wir momentan einen Backlash, wenn es um die Gleichstellung geht?

Anna-Béatrice Schmaltz: Der Einsatz für Gleichstellung ist aktuell schwieriger. Sei es, weil Gelder und Ressourcen gestrichen werden oder weil ein Teil des öffentlichen Narrativs daraus besteht, diesen Einsatz als übertrieben und unnötig darzustellen. Gleichzeitig gab es in den letzten Jahren auch wichtige Errungenschaften wie die Revision des Sexualstrafrechts, die seit 1. Juli 2024 in Kraft ist. Nun gilt auch endlich in der Schweiz «Nein heisst Nein». Auch die Ratifizierung der Istanbul Konvention 2017 war sehr wichtig. Die Konvention verpflichtet die Schweiz zu diversen und umfassenden Massnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt.

«direkt»: Und was bedeutet dieses Narrativ für den Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt?

Anna-Béatrice Schmaltz: Gleichstellung und die Verhinderung von Gewalt sind eng verknüpft. Der Nährboden für geschlechtsspezifische Gewalt ist fehlende Gleichstellung. Darauf bauen die Abwertung von Weiblichkeit, das Absprechen von Selbstbestimmung, sexuelle Belästigung, psychische Gewalt wie Isolation und Kontrolle und massivere Formen von Gewalt wie Vergewaltigung und Feminizide. Wichtig ist auch, dass uns bewusst ist, dass Diskriminierungen wie Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit das Risiko, Gewalt zu erleiden, massiv erhöhen. So sind gerade Frauen mit Behinderungen oder geflüchtete Frauen sowie trans Menschen stark von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen. Der Einsatz für mehr Gleichstellung ist somit immer auch ein Einsatz für eine gewaltfreie Gesellschaft und bleibt extrem wichtig.

«Ich erhoffe mir, dass das Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Einsatzes wieder erstarkt und die Verhinderung von geschlechtsspezifischer Gewalt endlich zur politischen Priorität wird.»

«direkt»: Was können wir dagegen tun und was erhoffen Sie sich für die Zukunft?

Anna-Béatrice Schmaltz: Es braucht Druck aus der Zivilgesellschaft. Zahlreiche Aktivist:innen und Organisationen sowie auch Einzelpersonen setzen sich seit Jahrzehnten für mehr Gleichstellung und eine gewaltfreie Gesellschaft ein -dies auch im Rahmen der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Wir müssen gemeinsam und solidarisch weiterkämpfen, damit wir alle Formen von Gewalt verhindern können. Ich erhoffe mir, dass das Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Einsatzes wieder erstarkt und die Verhinderung von geschlechtsspezifischer Gewalt endlich zur politischen Priorität wird.

16 Tage gegen Gewalt an Frauen

Die Kampagne «16 Days of Activism Against Gender Violence» wurde 1991 vom Women’s Global Leadership ins Leben gerufen. Die 16 Aktionstage beginnen jeweils am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Abschluss ist am Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember. Mit diesen Daten soll deutlich gemacht werden, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. Im Jahr 2008 lancierte Frieda – feministische Friedensorganisation zum ersten Mal in der Schweiz die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Seither tragen jährlich fast 300 Organisationen mit einem vielfältigen Programm an Aktivitäten und Veranstaltungen zur Kampagne bei. www.16tage.ch

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