«direkt»: Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Ungleichheiten, mit denen Fussballspielerinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen konfrontiert sind?
Tamina Wicky: Die erste Ungleichheit sind die Einkommen. Die meisten Schweizer Spielerinnen müssen neben dem Fussball noch einer anderen Erwerbsarbeit nachgehen. Die Spielerinnen von Servette-Chênois zum Beispiel, einem der besten Vereine im Land, verdienen zwischen 500 und 4000 Franken pro Monat. Selbst in der Nationalmannschaft gibt es Spielerinnen, die noch anderweitig Geld verdienen müssen. Daher haben sie im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen weniger Möglichkeiten, ebenso intensiv zu trainieren und sich ausreichend zu erholen.
«direkt»: Und der zweite Unterschied?
Tamina Wicky: Es mangelt allgemein an Infrastruktur. Oft sind es die Teams mit der längsten Tradition, die ihre Trainingszeiten behalten. Wird eine Frauenmannschaft gegründet, haben die Vereine Schwierigkeiten, diese unterzubringen. Die Frauen erhalten daher ungünstige Trainingszeiten und spielen häufig auf schlechteren Plätzen als die Männer – auch während der Meisterschaft. Zudem: Nicht immer stehen Umkleideräume für Frauen zur Verfügung. Drittens begleiten die Medien Frauenfussballspiele unzureichend. In der Schweizer Meisterschaft gibt es oft nur eine Kamera und keinen Kommentar.
«Die Ausrüstung ist auf den männlichen Körper ausgelegt – Schuhe und Equipment passen häufig nicht optimal, was auf hohem Spielniveau das Verletzungsrisiko steigert.»
«direkt»: Welche Auswirkungen hat dieser letzte Punkt?
Tamina Wicky: Für Zuschauer:innen ist es so langweiliger. Ohne Zeitlupen sieht man weniger technische Spielzüge und Aktionen, man ist weniger in die Spannung eingebunden. Ausserdem erschwert es die Identifikation mit den Spielerinnen und den Aufbau einer Story rund um den Frauenfussball.
«direkt»: Hat dieser Mangel an Mitteln und Infrastruktur auch konkrete Auswirkungen auf die Gesundheit der Spielerinnen?
Tamina Wicky: Ja, ein Bericht der Universität Neuenburg zeigt, dass sich Fussballerinnen sechsmal häufiger verletzen als Fussballer – ein enormer Unterschied. Viele dieser Verletzungen sind auf Kunstrasenplätze zurückzuführen, die das Risiko erhöhen. In Frankreich hat die professionelle Liga deshalb die Nutzung von Kunstrasen verboten. Zudem haben die Fussballerinnen weniger Erholungszeit und einen kleineren Betreuer:innenstab als die Männer. Es gibt weniger Masseur:innen und Physiotherapeut:innen, die bei der Regeneration helfen könnten. Auch die Ausrüstung ist auf den männlichen Körper ausgelegt – Schuhe und Equipment passen häufig nicht optimal, was auf hohem Spielniveau ebenfalls das Verletzungsrisiko steigert.
«direkt»: Ignoriert der Fussball insgesamt die Unterschiede zwischen Spielerinnen und Spielern?
Tamina Wicky: Leider, ja. Besonders der Menstruationszyklus wird in der Schweiz kaum berücksichtigt – abgesehen von der Nationalmannschaft, die für jede Athletin individuelle Trainings- und Regenerationspläne erstellt. Kleinere Vereine können das nicht leisten, was ebenfalls das Verletzungsrisiko steigern kann. Zudem beginnen Mädchen oft später mit dem Fussball als Jungs. Bis in die 1980er Jahre riet die UEFA dazu ab, Mädchen unter 13 Jahren spielen zu lassen – für Jungen galt ein Startalter von 7 Jahren. Diese Verzögerung hemmt die fussballspezifische Muskelentwicklung und erhöht das Risiko von Überlastungsschäden.
«direkt»: Ist es feministisch, als Frau Fussball zu spielen?
Tamina Wicky: Frauenfussball war von Beginn an mit feministischen Kämpfen verknüpft. Anfang des 20. Jahrhunderts waren viele Spielerinnen Suffragetten, die in England für das Frauenwahlrecht eintraten. Aber auch heute: Derzeit stört es schon nur, in einer von Männern dominierten Welt Raum einzunehmen. Das haben wir erst kürzlich erlebt.
«Es gibt offensichtlich einen starken Willen, Frauen, die aus ihren Geschlechterrollen ausbrechen, wieder an ihren «rechtmässigen» Platz zu verweisen. Als Feministinnen müssen wir diese Mechanismen anprangern – sei es in der Arbeitswelt, im Sport oder in der Politik.»
«direkt»: Das Trainingsspiel der Schweizerinnen gegen die Luzerner U15?
Tamina Wicky: Ja, die Jugendlichen, die die Schweizer Mannschaft angeblich mit 7:1 geschlagen haben sollen. Die Berichterstattung in den Medien war katastrophal. Le Figaro, eine französische Zeitung, die nicht einmal über die EM berichtet, hat das Ergebnis des Trainings als Sport-News aufgegriffen. Dort wurde das Training als Partie dargestellt, die dann versteckt worden sei, weil die Frauen-Nati so hoch verloren habe. Das ist schlicht unwahr: Es wurden drei Mal 30 Minuten gespielt, es gab 15 Auswechslungen auf Frauen-Seite und keine:n Schiedsrichter:in. Zudem stand im Luzerner Tor eine Schweizer Torhüterin.
«direkt»: Worum geht es diesen Medien?
Tamina Vicky: Es gibt offensichtlich einen starken Willen, Frauen, die aus ihren Geschlechterrollen ausbrechen, wieder an ihren «rechtmässigen» Platz zu verweisen. Als Feministinnen müssen wir diese Mechanismen anprangern – sei es in der Arbeitswelt, im Sport oder in der Politik. Denn alles hängt miteinander zusammen. Das zeigt auch eine Studie: In Ländern, in denen Frauen einen besseren Zugang zum Fussballspielen haben, erhalten diese auch eher Zugang zu höheren politischen Ämtern.
«direkt»: Diese Europameisterschaft zieht Fans aus aller Welt an, die Spiele sind fast immer ausverkauft. Ist dieses grosse Interesse am Frauenfussball neu?
Tamina Wicky: Keineswegs. Das erste internationale Frauenfussballspiel fand 1881 zwischen Schottland und England vor 400 bis 1000 Zuschauern statt – je nach Quelle. 1920 kamen 53’000 Fans, um ein Frauenländerspiel zu sehen – mehr als das heutige St.-Jakob-Park-Stadion in Basel fasst.
«direkt»: Wie lässt sich dieses Interesse im 20. Jahrhundert erklären?
Tamina Wicky: Im Ersten Weltkrieg nahm der Frauenfussball in England stark zu. Die Männer wurden in die Armee eingezogen, die Frauen arbeiteten in Rüstungsfabriken. Viele trafen sich nach der Arbeit, um Sport zu treiben – insbesondere Fussball. Bis Kriegsende entstanden rund 150 englische Frauenmannschaften.
«direkt»: Wie ging es nach Kriegsende weiter?
Tamina Wicky: Nach 1918 dominierte eine Geburtenpolitik das Leben der Frauen. Es galt, «Europa wieder zu bevölkern». Frauen wurden aus den Rüstungsbetrieben entlassen und in die Küche zurückgeschickt, um sich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern. Aufgrund dieser Politik verbot die englische Fussballliga 1921 den Vereinen, Frauen Zutritt zu Stadien und zu ihren Einrichtungen zu gewähren. Erst 50 Jahre später, in den 1970er Jahren, durften Frauen wieder die Einrichtungen der Fussballvereine nutzen.
«Ich finde es sehr mutig und wichtig, öffentlich über psychische Krankheiten zu sprechen.»
«direkt»: Wer ist Ihre Lieblingsspielerin?
Tamina Wicky: Viele Fussballerinnen sind inspirierend. Es gibt viele noch aktive Spielerinnen, die sich ihren Platz in einem Umfeld, in dem es zuvor keine Frauen gab, erst hart erkämpfen mussten. Besonders bewundere ich Ramona Bachmann, die sich vor der Euro 2025 leider verletzt hat. Sie ist eine der besten Schweizer Fussballerinnen aller Zeiten, hat bei Chelsea und Paris St. Germain gespielt. Bachmann ist eine sehr technische Stürmerin, die immer unglaubliche Tore schiesst. Und als Lesbe war sie für mich ein echtes Vorbild. Sie hat sich sehr früh geoutet. Nun hat sie geheiratet und ist im Mai 2024 Mutter geworden. Ich finde das ziemlich inspirierend – es gibt nur sehr wenige lesbische Mütter, die in der Schweiz medial in der Öffentlichkeit stehen.
«direkt»: Bachmann sprach auch offen über ihre psychischen Probleme, was bis heute ein Tabu ist.
Tamina Wicky: Ja, sie wurde vergangenen November wegen Angstzuständen und einer Panikstörung ins Spital eingeliefert. Darüber hat sie auch öffentlich gesprochen. Ich finde es sehr mutig und wichtig, öffentlich über psychische Krankheiten zu sprechen. In der Schweiz sind viele junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren von psychischen Krankheiten betroffen – für sie können solche Vorbilder sehr wichtig sein.