Meine erste Begegnung mit feministischem Wissen bestand aus zahlreichen Bauchlandungen. Nicht nur entdeckte ich, dass ich die Welt bisher aus einer stark patriarchal geprägten Perspektive heraus betrachtet hatte, sondern beispielsweise auch von einer eurozentrischen, klassistischen Position aus.
Du kannst dir und deinen Überzeugungen, Empfindungen und Wahrheiten nicht unbedingt trauen, denn du bist geprägt von Machtstrukturen und Normen.
Mein Eintauchen in den Feminismus war eine Selbst-Infragestellung, schmerzhaft und befreiend zugleich. Sie brachte Fundamente ins Wanken, gleichzeitig eröffneten sich neue Welten.
Für mich ist kritische Selbstbefragung, ja Selbst-Distanz, seither ein Kern der Emanzipation: Du kannst dir und deinen Überzeugungen, Empfindungen und Wahrheiten nicht unbedingt trauen, denn du bist geprägt von Machtstrukturen und Normen; du bist nicht einfach nur ein Individuum, sondern auch das Ergebnis gesellschaftlicher Prägung.
Eigene Täter:inneschaft mitdenken
Mit Denkerinnen wie Donna Haraway, Patricia Hill Collins, Gayatri Spivak und vielen anderen lernte ich eine radikale Distanzierung von mir selbst, von den bisher eingeübten Normen, Sehnsüchten, Lebenspraxen und Selbstverständlichkeiten. Ich lernte, dass Denken, Fühlen und Wissen oft kontextabhängig sind, und dass das, was sich als vorherrschendes Wissen durchsetzt, von Machtinteressen durchdrungen ist.
Gleichzeitig lernte ich, dass auch das so genannte «gegenhegemoniale Wissen», also das unterdrückte Wissen von diskriminierten Gruppen, das «Wissen von unten», nicht unbedingt frei von Macht ist. Die feministische, queere, antirassistische, Antisemitismus kritisierende Kritik kann nicht ausschliessen, dass sie nicht auch selbst hegemonial, normierend, ausschliessend, verabsolutierend ist. Denn es gibt keine unschuldige Position ausserhalb der Gesellschaft. Kein Widerstand ist davor gefeit, selbst Macht zu reproduzieren. Was wir anderen vorwerfen, von dem sind wir oft selbst nicht frei.
Widerstand muss immer auch selbst fragen: Wie prägt mich selbst, was ich eigentlich kritisiere?
Dieses Grundproblem haben viele Denker:innen und Aktivist:innen aufgeworfen, und es lässt sich nicht auflösen, sondern nur immer wieder adressieren. Das heisst, wir müssen, wenn wir Kritik üben, auch unsere eigene potenzielle Täter:innenschaft mitdenken.
Anders gesagt: Frauen können transfeindliche Meinungen haben, rassistisch diskriminierte Menschen können frauenfeindlich sein, queere Menschen können Rassismus reproduzieren. Es scheint banal. Aber die Konsequenzen, die sich daraus für Aktivismus und Gesellschaftskritik ergeben, sind es meines Erachtens nicht. Aus ihnen folgt eine Haltung, die mich damals wirklich erfüllte und mir zutiefst sympathisch ist. Widerstand muss immer auch selbst fragen: Wie prägt mich selbst, was ich eigentlich kritisiere? Oder mit dem Philosophen Michel Foucault gesprochen: «Wie muss man es anstellen, nicht zu einem Faschisten zu werden, selbst wenn (vor allem wenn) man glaubt, ein Kämpfer für die Revolution zu sein?»
Wir müssen uns eingestehen, dass wir – ausnahmslos alle – nicht davor gefeit sind, Macht und Diskriminierung auszuüben.
Vertrauen durch Misstrauen
Es gibt darauf weder einfache noch schnelle Antworten. Angesichts der zunehmend feindseligen Debatten auch innerhalb linker Kreise lohnt es sich, diese Grundsatzfragen nochmal zu stellen, denn ja: Wir sollten natürlich Faschist:innen mit aller Klarheit angehen, aber wir, die wir eine nicht-reaktionäre, eine offene Gesellschaft wollen, sollten uns gegenseitig nicht mit der gleichen erbarmungslosen Härte herumjagen.
Wir müssen uns eingestehen, dass wir – ausnahmslos alle – nicht davor gefeit sind, Macht und Diskriminierung auszuüben. Wir müssen davon ausgehen, dass unsere Absichten nie einfach gut sind, dafür gibt es zu viele Beispiele, bei denen Befreiungsbewegungen in autoritäre Systeme und neue Gewalt umschlugen. Die Schriftstellerin Ilse Aichinger hat das einst überzeugend formuliert, als sie schrieb, wir müssten uns immer selbst misstrauen: «der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen!» Womöglich können wir nur vertrauensvoll sein, wenn wir uns selbst misstrauen. Aktivismus entwickelt dann Kraft, wenn er sich ein Stück weit selbst unbehaglich bleibt.
Wenn wir im Zuge unserer Systemkritik auch Selbstkritik üben, sind wir glaubwürdiger.
Ich muss gestehen, dass es mir in meinen aktivistischen Hochphasen nicht immer leichtfiel, geschweige denn gelang (auch heute oft nicht gelingt), diese Komplexitäten zu berücksichtigen, und dass mein Aktivismus zuweilen geprägt davon war, so hart zu kämpfen, dass ich die Möglichkeit eigener Machtausübung und Verabsolutierungen nicht mehr wahrnahm.
Jetzt, mit dem Älterwerden, aber auch mit den sich zuspitzenden schmerzhaften Zerwürfnissen innerhalb progressiver, feministischer, linker Kreise und dem damit einhergehenden Gefühl der Hilflosigkeit, habe ich das Bedürfnis, nochmal darüber nachzudenken, was Aktivismus und was Gesellschaftskritik für mich bedeuten.
Glaubwürdigkeit durch Selbstkritik
Ich erinnere mich derzeit öfter an die ersten Lektionen während meiner frühen feministischen Lektüren, die mich tief erschütterten und aber auch ein Versprechen beinhalteten: Wenn wir im Zuge unserer Systemkritik auch Selbstkritik üben, sind wir glaubwürdiger.
Selbstreflexion und Kritik nach innen müssen in jedem Befreiungsanspruch enthalten sein, wenn er emanzipatorisch und nicht selbst autoritär sein will.
Das Prinzip der Selbstkritik richtet sich zuallererst an jene, die viele Privilegien haben und Teil der Mehrheitsgesellschaft sind. Aber hier wird es bereits schwierig, weil viele Menschen sowohl Teil einer privilegierten und einer diskriminierten Gruppe sind. Sie sind vielleicht beispielsweise weiss, und gleichzeitig queer und/oder arm. Letztlich gilt: je mehr Privilegien wir haben, desto mehr müssen wir uns fragen, welche Machtstrukturen wir reproduzieren.
Umgekehrt heisst das aber nicht, dass Menschen mit wenigen Privilegien aus der Pflicht genommen sind, eigene Leerstellen oder gewaltvolles Verhalten zu hinterfragen. Auch aus einer noch so grossen Defensive heraus reicht es nicht, nur andere zu dämonisieren und eigene Positionen und Handlungsweisen kritiklos zu idealisieren. Es ist eine machtvolle Geste, ausnahmslos anderen die Fähigkeit zu Gewalt und Fehlverhalten zu unterstellen und sich selbst davon auszunehmen. Selbstreflexion und Kritik nach innen müssen in jedem Befreiungsanspruch enthalten sein, wenn er emanzipatorisch und nicht selbst autoritär sein will.
Ich weiss nicht, wann ich zuletzt und ob überhaupt je einen Text, einen Kommentar oder eine Insta-Kachel gelesen habe, in dem jemand sagt: Vielleicht habe ich nicht recht. Oder: Ich habe mich geirrt.
Man mag mir vorhalten, dass wir jetzt, da der Faschismus vor der Türe steht und Kriege, Terror, Gewalt, Auslöschung und Völkerrechtsbrüche ausgeübt werden, Täter:innen klar benennen müssen und uns keine selbstkritische Nabelschau leisten können. Doch warum soll nicht beides gleichzeitig gehen? Kritik an Gewalt, an Rechtsextremismus und Reflexion eigener Leerstellen, Auslassungen und Anfälligkeit für Dogmatismus und Einseitigkeit.
Für das Gemeinsame
Ich bin in den Feminismus eingestiegen als Praxis der Selbstkritik. Natürlich ist das ein hoher Anspruch. Meine Vorbilder haben sich nicht konsequent darangehalten, und ich ebenso wenig. Wir haben Angst, die Souveränität zu verlieren, unrecht zu haben. Wir haben Angst davor, weich zu sein, und bleiben lieber hart. Wir haben Angst, die Traurigkeit zu spüren, die hinter der Wut steht. Ich weiss nicht, wann ich zuletzt und ob überhaupt je einen Text, einen Kommentar oder eine Insta-Kachel gelesen habe, in dem jemand sagt: Vielleicht habe ich nicht recht. Oder: Ich habe mich geirrt.
Natürlich ist Anprangern nicht grundsätzlich falsch. Aber wenn es als (digitale) Kultur auch in unseren eigenen Reihen überhandnimmt, ist das nicht gut. Was wir derzeit häufig auch innerhalb feministischer, linker, progressiver, liberaler, demokratischer Milieus betreiben, ist Zerfleischung, ist eine Rhetorik, die anderen grundlegend abspricht, mit ihren Sichtweisen überhaupt irgendeinen Punkt zu haben, geschweige denn ebenfalls leidensfähig zu sein.
Die auftrumpfende Rhetorik: Ist sie wirklich nur ein Trump-Problem, ein Putin-Problem? Toxische Männlichkeit ist nichts, was nur Männer praktizieren. Sie ist eine Kultur, die viele von uns selbst ausüben. Der Drang, sich auch innerhalb der progressiven Kreise permanent zu sagen, wer falsch denkt und falsch handelt, ist aus meiner Sicht ein Problem. Auch wenn es sicher oft gute Argumente dafür gibt, aber der Ton, der Habitus, die Gesten der Entwertung und Verabsolutierung – es sind letztlich vereinzelnde, einsam machende Praxen, die kaum Kraft für gemeinsamen Widerstand, neue Ideen und geteilte Träume zu mobilisieren vermögen.
Die Sprache der Absolutheit produziert Vereinzelung, nicht Kooperation. Einen Modus von «ich» gegen «die», ein Freund:innen-Feind:innen-Schema. Andere sind in diesem Schema «für mich» oder «gegen mich». Man ist nicht anschlussfähig für Vielfältigkeit. Eine Haltung der Selbstkritik würde anerkennen, dass emanzipatorisches Wissen nur wechselseitig, nie allein entstehen kann. Die Würde des Menschen wird garantiert, wenn sich Menschen über «Wahrheit» und «Falschheit» verständigen und davon ausgehen, dass sich diese nur gemeinsam finden lassen. Menschliche Würde wird dann gewährleistet, wenn wir anerkennen, dass «die anderen» über «die eigene Wahrheit» mitentscheiden können müssen.
«Ich bin mir nicht ganz sicher.»
Man ist bei diesem Spektakel der Grausamkeiten selbst als Atheistin versucht, hineinzurufen: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein! Erbarmt Euch Eurer selbst und der anderen. Seid weich, nicht hart.
Um Faschismen aller Art abzuwehren, sollten wir die Reihen wenigstens ein Stück weit schliessen, miteinander koalieren, auch über Differenzen hinweg.
Weich zu sein heisst nicht, unklar zu sein. Natürlich brauchen wir eine deutliche Haltung und Abgrenzung gegenüber demokratie-gefährdenden, rechtsextremen, religiös-fundamentalistischen und anderen reaktionären Politiken. Es geht mir auf keinen Fall darum, solche Positionen zu tolerieren. Aber innerhalb demokratisch orientierter Kräfte – und ich weiss, das sind hilflose, unpräzise Kategorisierungen, denn wer genau ist das? – brauchen wir jetzt, wie ich meine, Verbündung. Um Faschismen aller Art abzuwehren, sollten wir die Reihen wenigstens ein Stück weit schliessen, miteinander koalieren, auch über Differenzen hinweg. Wir müssen versuchen, Anschlussmöglichkeiten zu finden. Oder anders ausgedrückt: Andere Linke, Liberale, Feminist:innen usw. im Netz herumjagen, ist nicht der Aktivismus, den wir jetzt brauchen.
Ich meine damit nicht, dass wir einander nicht mehr kritisieren sollen. Im Gegenteil: Wir kommen der Wahrheit nur streitend näher. Aber indem wir uns brutal und öffentlich gegenseitig an den Karren fahren, riskieren wir, unüberwindbare Feind:innenschaften und Verletzungen zu produzieren.
Dass rechte, anti-demokratische Kräfte nicht dialogisch, eben nicht demokratisch vorgehen, sondern denunzierend, herabwürdigend, entwertend kommunizieren, ist klar. Gerade deshalb müssen wir es anders machen.
Schreiben wir doch bei unseren Kommentaren, in unseren Ansprachen oder Meinungsbekundungen auch ab und zu hin: «Ich bin nicht ganz sicher», oder «ich weiss, dass andere es anders sehen», oder: «meine Sicht ist geprägt von…». Wir müssen uns einer Sprache verwehren, in der es keine Ritzen und Lücken mehr gibt, in denen sich kein Zweifel einnisten kann, einer Sprache verwehren, die nur den Anspruch kennt, sich selbst in einem Kräftemessen an die Spitze zu setzen mit dem einzigen Ziel, selbst dominierend zu werden.
Das aktivistische Grundgetöse im digitalen Schlund ist oft nicht Diskurs oder Kritik, sondern Rechthaberei. Dass rechte, anti-demokratische Kräfte nicht dialogisch, eben nicht demokratisch vorgehen, sondern denunzierend, herabwürdigend, entwertend kommunizieren, ist klar. Gerade deshalb müssen wir es anders machen. Wir, die wir nicht dem Faschismus angehören wollen, sollten uns gegen dessen Sprache wehren. Wir müssen weich bleiben und nicht hart.
Und ja, man möge mir in all dem widersprechen.
Artikel vorgelesen von Franziska Schutzbach
Franziska Schutzbach ist Buchautorin, promovierte Geschlechterforscherin, feministische Aktivistin sowie Dozentin für Geschlechterforschung und Soziologie an der Universität Basel. 2021 hat sie den Bestseller «Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit» veröffentlicht.
Die Kolumne ist eine «Carte Blanche» und widerspiegelt die Meinung der Autorin.