Bruno Tobback: «Der ‹Green Deal› ist auch eine Unabhängigkeitserklärung»

Mit ihrem «Green Deal» investiert die Europäische Union massiv in die Entwicklung erneuerbarer Energien. Auch in der Schweiz gibt es mehrere Initiativen, die die öffentlichen Investitionen in dieses gigantische Projekt erhöhen wollen. Ziel ist es, die Energieunabhängigkeit zu stärken und den Übergang ins Netto Null fair zu finanzieren. Der ehemalige belgische Umweltminister und Europaabgeordnete Bruno Tobback im Interview mit «direkt».

Fotos: Unsplash/Europäisches Parlament

«direkt»: Der europäische «Green Deal» ist eine kleine Revolution für öffentliche Investitionen in die Klimapolitik. Worum geht es dabei konkret?

Bruno Tobback: Die ursprüngliche Idee ist, den Übergang zu einer für den Planeten gesünderen Wirtschaft zu stärken und davon wirtschaftlich zu profitieren. Heute sollte der «Green Deal» auch eine Unabhängigkeitserklärung für Europa sein. Derzeit müssen wir Öl und Gas aus Ländern wie den Vereinigten Staaten und Russland importieren. Dies schafft eine enorme Abhängigkeit, die die europäische Wirtschaft stark schwächt. Diese Abhängigkeit führt zu Schwankungen bei den Strom- und Energiepreisen, obwohl Europa in diesem Bereich sehr wohl unabhängig sein könnte.

«direkt»: In der Schweiz fordert eine Initiative, dass der Bund jährlich zwischen 0,5 und 1 Prozent seines BIP in die ökologische Transformation investiert. Die SP ist der Ansicht, dass dies die Energieunabhängigkeit der Schweiz stärken würde. Welche Rolle spielen die Staaten in diesem Bereich?

Bruno Tobback: Für Europa ist es wichtig, auf die Qualität des gemeinsamen Marktes zu bestehen. Er schafft Chancen für seine Unternehmen im Bereich neuer und nachhaltiger Technologien und schafft Arbeitsplätze. Gleichzeitig ermöglicht ein Binnenmarkt mit möglichst starken Verbindungen ein hohes Volumen und damit relativ niedrige Preise. Dies ist nicht nur für die Energieerzeugung von Vorteil, sondern beispielsweise auch für die Abfallwirtschaft und das Recycling. Dies ist ein komparativer Vorteil, den Europa hat und den es stärker nutzen sollte.

«direkt»: Finanzinstitute finanzieren in grossem Umfang fossile Energien. Wie kann man dafür sorgen, dass die Finanzströme in ökologische Projekte fliessen und nicht in Projekte, die der Umwelt schaden?

Bruno Tobback: Klimaziele generieren Investitionen: Sie ermöglichen es Finanzinstituten, Banken und Pensionsfonds zu identifizieren, wohin sich der Markt in Zukunft bewegen wird. Sie können Märkte schaffen, sei es für Elektroautos oder für nachhaltige Produkte. Sobald die Finanzierungsregeln klar sind, ist es einfacher, Geldgeber zu finden. Und da das politische Klima in den Vereinigten Staaten für ökologische Projekte weniger günstig ist, zeigen Studien, dass bereits eine Verlagerung von Kapital und Investitionen von den Vereinigten Staaten nach Europa stattfindet. Europa ist bestrebt, dieses günstige Klima für ökologische Investitionen aufrechtzuerhalten.

«Es ist möglich, mit weniger CO2-Emissionen und weniger Energieverbrauch zu leben. Dies erfordert jedoch Investitionen, die nicht für alle erschwinglich sind. Der soziale Aspekt des «Green Deal» sollte darauf eine Antwort geben.»

«direkt»: Die Schweiz stimmt am 30. November über die «Initiative für eine Zukunft» ab. Sie möchte Erbschaften über 50 Millionen CHF mit 50 Prozent besteuern, damit die Superreichen den ökologischen Wandel finanzieren. Sollte dieser Aspekt der sozialen Gerechtigkeit nicht in den europäischen «Green Deal» aufgenommen werden?

Bruno Tobback: Europa hat in diesem Bereich keine Steuerhoheit, ausserdem ist der «Green Deal» nicht als Steuerinstrument gedacht. Dennoch gibt es Systeme wie das ETS, das «Emissions Trading System», das darauf abzielt, Industrien, die viel CO2 ausstossen, zur Kasse zu bitten. Und natürlich besteht ein grosser Bedarf an Initiativen für mehr Steuergerechtigkeit. Ja, es ist möglich, mit weniger CO2-Emissionen und weniger Energieverbrauch zu leben. Dies erfordert jedoch Investitionen, die nicht für alle erschwinglich sind. Der soziale Aspekt des «Green Deal» sollte darauf eine Antwort geben. Das heisst, den Zugang zu all den neuen Technologien zu erleichtern, die bereits existieren und die Lebensqualität verbessern.

«direkt»: Würden Sie also sagen, dass Europa in diesem Punkt nicht weitsichtig genug war und dass die Schweiz die Gelegenheit hat, die Führung zu übernehmen?

Bruno Tobback: In der Tat ist dies eine Sorge, die wir von Anfang an ernster hätten nehmen sollen. Wir dürfen nicht zu sehr betonen, dass wir auf der Seite des Planeten stehen, und dabei vergessen, dass wir vor allem auf der Seite der Menschen stehen müssen. Menschen, die am Monatsende nicht über die Runden kommen, haben keine Zeit, sich um das Ende der Welt zu sorgen. Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, in der jeder Teil von etwas ist, das sich in die richtige Richtung entwickelt. Energieunabhängigkeit zu schaffen, in saubere und kostengünstige Technologien und in eine Umwelt zu investieren, die für alle lebenswert und angenehm ist, ist ein gesellschaftliches Projekt. Wir müssen die Menschen darin einbeziehen, anstatt sie zu konfrontieren.


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