«direkt»: Céline Witschard, in diesem Jahr geht es in der Kampagne «16 Tage gegen geschlechtsspezifische Gewalt» insbesondere auch um die Gewalterfahrungen von Menschen mit Behinderungen. Aktivist:innen sprechen davon, dass diese Gruppe in der Diskussion um patriarchale Gewalt «ausradiert» wird. Was bedeutet das?
Céline Witschard: Menschen mit Behinderungen werden in dieser Diskussion unsichtbar gemacht. Häufig geschieht das aber gar nicht absichtlich. Dieses Unsichtbarmachen beruht meist auf Unwissen oder darauf, dass man nicht wahrnimmt, dass geschlechtsspezifische Gewalt auch Menschen mit Behinderungen betrifft. Laut internationalen Studien hat eine Frau mit Behinderungen ein zwei- bis dreimal so hohes Risiko, Gewalt zu erfahren, wie eine Frau ohne Behinderungen. Für andere Minderheiten mit Behinderungen, wie etwa queere Menschen, fehlen uns genaue Zahlen. Wir können aber davon ausgehen, dass auch sie ein erhöhtes Risiko tragen, weil sie doppelt diskriminiert werden und somit noch stärker ins Visier geraten.
Céline Witschard ist Gründerin und Direktorin von «Vision Positive», einer Organisation, die Unternehmen und andere Institutionen schult, berät und begleitet, damit deren Inhalte und Informationen für alle zugänglich sind, einschliesslich Menschen mit Behinderungen. Sie ist unter anderem ausgebildete Journalistin, Lehrperson und ausgebildete Coach.
«direkt»: Die Kampagne will diese Menschen und ihre Erfahrungen sichtbar machen. Welche Programmpunkte sind geplant?
Céline Witschard: Wir haben unter anderem Aktionen speziell für die Medien organisiert, denn deren Sensibilisierung ist enorm wichtig. Dass Menschen mit Behinderungen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, muss auch medial sichtbar gemacht werden. Und es muss aufgezeigt werden, dass hier Handlungsbedarf besteht. In der Schweiz fehlen belastbare Statistiken zu Gewalt im Zusammenhang mit Behinderungen – sowohl auf Bundes- als auch auf Kantonsebene. Aber nicht nur die Medien müssen sensibilisiert werden.
«direkt»: Was meinen Sie damit genau?
Céline Witschard: Es gibt Organisationen, die sich im Bereich des Feminismus und des Frauenschutzes allgemein engagieren und sich um People of Color oder queere Personen kümmern, ohne jedoch für diese Themen sensibilisiert zu sein. Einige von ihnen haben nun festgestellt, dass sie Menschen mit Behinderungen in ihrem Aktivismus und ihrer Arbeit völlig vergessen haben. Dies eher aus Unwissenheit als aus mangelnder Bereitschaft zu handeln. In den Vorbereitungssitzungen für die Kampagne haben wir häufig von Aktivist:innen gehört, dass sie noch nie mit Gewaltsituationen gegenüber Menschen mit Behinderungen konfrontiert waren. Das ist aber gar nicht möglich, da 80 Prozent aller Behinderungen äusserlich nicht sichtbar sind. Sie waren also sicherlich schon mit Menschen mit Behinderungen konfrontiert, wussten es aber einfach nicht.
«direkt»: Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und dem Kampf gegen patriarchale Gewalt?
Céline Witschard: Dieser Zusammenhang ist extrem wichtig. Selbstbestimmung ist die Grundlage dafür, informiert zu sein und seine Rechte zu kennen. Das gilt für alle – für Frauen, die aufgrund ihrer Muttersprache das Schweizer Recht nicht gut verstehen, oder eben auch für Menschen mit Behinderungen. Besonders wichtig ist das für Personen, die in einem Heim leben oder Schwierigkeiten beim Verstehen von geschriebenem oder gesprochenem Text haben. Sie müssen über ihre Rechte aufgeklärt werden und benötigen beispielsweise Texte, die in vereinfachter Sprache verfasst sind. Je mehr wir diese Menschen sensibilisieren, ihnen ihre Rechte vermitteln und ihnen erklären, was akzeptabel ist und was nicht, desto besser werden sie wissen, wo die Grenzen liegen und welche Grenzen nicht überschreiten werden dürfen. Das heisst, desto besser werden sie verstehen, dass bestimmte Situationen nicht stattfinden sollten und verwerflich sind.
«direkt»: Welche Rolle spielen die vorhandenen Institutionen im Kampf gegen Gewalt?
Céline Witschard: Zurzeit fehlt es an Intersektionalität. Institutionen für Menschen mit Seh- oder Lernbeeinträchtigungen verfügen über wenig oder gar keine Kenntnisse darüber, wie Opfer von Gewalt begleitet werden sollten. Sie verbinden diese beiden Wissensbereiche nicht miteinander. Ohne diese Verbindung können sie die Opfer nicht an die richtigen Stellen weiterleiten. Daher ist es wichtig, alle betroffenen Zielgruppen zu informieren. Ebenso wichtig ist es zudem, sich zu vernetzen, bestehende Initiativen zu kennen und über ein Instrumentarium sowie ein Verzeichnis nützlicher Adressen zu verfügen.
«direkt»: Die Schweiz hinkt im Bereich der Rechte von Menschen mit Behinderung hinterher. Woran liegt es, dass die politische Bereitschaft fehlt, die Lage zu verbessern?
Céline Witschard: Historisch ist die Sensibilität für das Thema Behinderungen vor allem in der Linken präsent. Damit sich etwas ändert, muss das aber gesamte Parteienspektrum sensibilisiert werden. In rechtsbürgerlichen Kreisen werden Behinderungen oft als finanzielle Belastung und nicht als wirtschaftliches Potenzial gesehen. Dabei möchten viele Menschen mit Behinderungen arbeiten und nicht von der Invalidenversicherung abhängig sein. Angesichts des demografischen Wandels wird jede:r von uns früher oder später durch altersbedingte Einschränkungen betroffen sein: 25 Prozent der Über-65-Jährigen haben eine Sehbeeinträchtigung, ab 80 Jahren ist es jede zweite Person. Aktuell leben in der Schweiz vier Prozent der Bevölkerung – rund 375 000 Personen – mit einer Sehbeeinträchtigung; bis 2050 wird sich diese Zahl verdoppeln. Wer weiterhin Politik nur für junge, dynamische und «gesunde» Menschen macht, läuft in einer alternden Gesellschaft gegen eine Mauer.



