Amnesty International: «Was wir in Gaza sehen, erfüllt die Kriterien eines Völkermords.»

Mitarbeiter:innen von Hilfsorganisationen ringen um Worte, wenn sie die aktuelle Situation der Bevölkerung im Gazastreifen beschreiben. Auch Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz, ist fassungslos und fordert von der internationalen Gemeinschaft sofort Taten.

Eine Familie auf der Flucht von Khan Yunes nach Rafah am 20. Mai 2025. Foto: Anas Deeb (Keystone Newscom)

«direkt»: Alexandra Karle, wie schätzt Amnesty International die aktuelle Lage im Gazastreifen ein?

Alexandra Karle: Vor unseren Augen findet momentan ein Völkermord statt. Ich muss es so drastisch ausdrücken. Wir wissen, dass seit dem 2. März keinerlei Hilfslieferungen mehr nach Gaza durchkommen. Die Menschen verhungern, Kinder sterben, Spitäler können nicht mehr operieren. Mit den verstärkten Luftangriffen und der Bodenoffensive der israelischen Armee gibt es zudem keinen sicheren Flecken mehr für die Bevölkerung. Kurz: Es ist schlicht eine Katastrophe, die dort passiert. Wir müssen dringend etwas dagegen tun! Wir müssen jetzt aufstehen und dem Einhalt gebieten.

Alexandra Karle, Geschäftsleiterin Amnesty Schweiz. Foto: Amnesty International, A. Schmidburg
«direkt»: Hat Amnesty International noch Mitarbeitende vor Ort im Gazastreifen?

Alexandra Karle: Ja, wir haben noch Kolleg:innen vor Ort, die auch immer noch Recherchen durchführen. Unsere Einschätzungen beziehen sich auf ihre Berichte und nicht auf externe Quellen. Ihre Nachrichten spiegeln das nackte Grauen – verletzte Kinder, die nicht mehr operiert werden können, fehlende Betäubungsmittel, die Hungersnot, die Angst vor den Bombeneinschlägen, die Verzweiflung. Sie sagen auch, ähnlich wie die Mitarbeiter:innen anderer Organisationen, dass sie eine solche Hölle noch nie erlebt haben. Auch das Schweigen der Welt macht sie fassungslos.

«Die israelische Regierung nimmt bewusst in Kauf, dass Zivilpersonen getötet und ausgehungert werden. Anders kann man es nicht sagen.»

«direkt»: Mitte Mai hat die israelische Armee die Angriffe weiter intensiviert.

Alexandra Karle: Israel hatte die palästinensische Bevölkerung aufgefordert, sich in den Süden des Küstenstreifens zu begeben. Seit einigen Tagen stehen aber der Norden und der Süden unter starkem Beschuss, auch Bodentruppen der israelischen Armee rücken vor. Klar ist: Zwangsvertreibung ist ein Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht und können Kriegsverbrechen sein, ebenso wie die Angriffe auf zivile Häuser, behelfsmässige Zeltstätten und Spitäler. Die israelische Regierung nimmt bewusst in Kauf, dass Zivilpersonen getötet und ausgehungert werden. Anders kann man es nicht sagen.

«direkt»: Amnesty International spricht gar von einem «Völkermord». Ein drastisches Wort.

Alexandra Karle: Die Völkerrechtler:innen bei Amnesty sind sich einig: Was wir in Gaza sehen, erfüllt die Kriterien eines Völkermords. Wir verwenden diesen Begriff nicht leichtfertig, sondern orientieren uns strikt an der UN-Völkermordkonvention. Nach unserer Analyse sind die Voraussetzungen dafür erfüllt. Natürlich liegt die abschliessende rechtliche Bewertung bei den zuständigen internationalen Gerichten.

«direkt»: Gibt es dazu bereits eine Einschätzung?

Alexandra Karle: Ja, der Internationale Gerichtshof hat bereits Anfang 2024 festgestellt, dass es deutliche Anzeichen für einen in Gaza stattfindenden Völkermord gibt. Er hat Israel aufgefordert, alle notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um das zu verhindern. Auch die anderen Staaten müssen alles unternehmen, um einen Völkermord zu stoppen. Doch geschehen ist seither einfach nichts. Dies, obschon alle wissen, was passiert. Mich macht das unglaublich fassungslos.

«direkt»: Auch in Israel selbst sind die Menschen zum Teil fassungslos über das Gebaren der eigenen Regierung. Die Befreiung der in Gaza verbleibenden Geiseln scheint für Netanjahu keine Priorität mehr zu haben. Und auch die Intensivierung der Bombardierungen wird von vielen Israeli abgelehnt. Wie schätzen Sie diese Entwicklung in Israel selbst ein?

Alexandra Karle: Die Befreiung der Geiseln ist für die Menschen in Israel nach wie vor sehr wichtig. Aber auch die Kriegsführung wird kritisiert: Es gibt riesige Proteste gegen die Netanjahu-Regierung und das Vorgehen in Gaza. Auch weltweit protestieren Menschen gegen den Krieg in Gaza, gerade an diesem Wochenende über 100’000 in Den Haag.

«Es gibt verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehört erstmal, die Sache beim Namen zu nennen. Was in Gaza geschieht, muss als Völkermord anerkannt und als solcher bekämpft werden.»

«direkt»: Das ursprüngliche Ziel der israelischen Regierung war es ja, die Hamas als Organisation auszulöschen. Für wie realistisch halten Sie dieses Ziel?

Alexandra Karle: Die Kriegsführung der israelischen Armee in Gaza trägt offensichtlich nicht dazu bei, dass die Hamas ent-radikalisiert oder an ihren Angriffen auf Israel gehindert wird. Gleichzeitig setzt die israelische Regierung die Bevölkerung Palästinas in Gaza und im Westjordanland mit der Hamas gleich. Das geht nicht. Auch wenn die Hamas Kriegsverbrechen begeht, in dem sie immer noch Geiseln festhält, oder sich hinter ziviler Infrastruktur verschanzt: Das humanitäre Völkerrecht sagt, dass sich alle Kriegsparteien an das humanitäre Völkerrecht halten müssen, selbst wenn eine Partei dagegen verstösst. Wir appellieren an Israel als demokratischen Staat, der diesen Werten verpflichtet ist, das zu tun.

«direkt»: Was müsste die internationale Gemeinschaft jetzt tun?

Alexandra Karle: Es gibt verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehört erstmal, die Sache beim Namen zu nennen. Was in Gaza geschieht, muss als Völkermord anerkannt und als solcher bekämpft werden. Sehr viele europäische Staaten äussern sich bereits dezidiert. Die Niederlande fordern zum Beispiel, dass das Partenschaftsabkommen zwischen der EU und Israel überprüft werden soll, weil darin eine Verpflichtung zu den Menschenrechten enthalten ist. Die Mehrheit der EU-Aussenminister:innen hat dieser Forderung nun zugestimmt. Das zeigt: Die Staatengemeinschaft kann definitiv etwas tun – politisch oder wirtschaftlich. Zum Beispiel könnte auch der Export von Kriegsmaterial und Dual-Use-Gütern nach Israel verboten werden.

«Ich erwarte deshalb von der Schweiz nachdrücklich, Stellung zu beziehen und alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um das Grauen zu stoppen.»

«direkt»: Auch die Schweiz exportiert Dual-Use-Güter, also Güter, die sowohl zivil als auch militärisch eingesetzt werden können, nach Israel.

Alexandra Karle: Genau, zum Beispiel Lasertechnik, wie «RTS» kürzlich recherchiert hat. Neben dem Exportverbot könnte auch jegliche Zusammenarbeit mit Firmen, Organisationen und Stiftungen, die die Besatzung in den besetzten palästinensischen Gebieten unterstützen, abgebrochen werden. Kurz: Es gibt zahlreiche Handlungsmöglichkeiten für die internationale Gemeinschaft. Aber gerade die Schweiz verhält sich derzeit aus unserer Sicht zu zurückhaltend, obschon sie Depositarstaat der Genfer Konventionen ist.

Darin ist das humanitäre Völkerrecht geregelt.

Alexandra Karle: Genau. Ich erwarte deshalb von der Schweiz nachdrücklich, Stellung zu beziehen und alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um das Grauen zu stoppen. Mindestens 13’000 Kinder sind in Gaza laut Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums bereits getötet worden. Andere Quellen gehen von deutlich höheren Opferzahlen aus. Auch wenn wir diese Zahl nicht nachprüfen können – es reicht! Wir müssen jetzt handeln. Andere europäische Länder machen das. Warum nicht die Schweiz?


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