«Die Folgen sind klar: Der Verkehr wird zunehmen.»

Führt der Ausbau der Autobahnen zu weniger Staus? Diese Frage haben wir dem Mobilitätsexperten und Geografen Sébastien Munafò gestellt. Im Interview mit «direkt» stellt der Experte klar: Der Verkehr wird durch den Ausbau zunehmen, auch abseits der Autobahnen.

Der Oster Reiseverkehr auf der Autobahn A-2 vor dem Gotthardtunnel zwischen Goeschenen und Erstfeld in Richtung sueden staut sich bei Erstfeld auf mehrere Kilometer laenge, am Freitag, 29. Maerz 2024. (KEYSTONE/Urs Flueeler)
«direkt»: Sébastien Munafò, das Hauptargument des Bundesrates für den Autobahn-Ausbau ist, dass dadurch die Staus auf einigen Strecken reduziert werden. Was halten Sie als Mobilitätsexperte von diesem Versprechen?

Sébastien Munafò: Leider hat der Ausbau von Strassen, sei es in der Schweiz, in Europa oder anderswo auf der Welt, noch nie Stau auf einer Strasse reduziert. Warum ist das so? Weil der Ausbau einer Strasse sehr schnell dazu führt, dass der Verkehr, den man eigentlich regulieren wollte, zunimmt. Am Ende haben wir noch verstopftere Strassen als vorher und haben zusätzlich Milliarden für den Ausbau ausgegeben.

«direkt»: Also führt der Ausbau von Autobahnen nicht zu einer Verkehrsreduktion?

Sébastien Munafò: Nein. Veränderungen im Mobilitätsverhalten werden in erster Linie durch das Angebot bestimmt. Kurz gesagt: Je grösser das Angebot, desto mehr Menschen werden es nutzen. Das gilt für den öffentlichen Verkehr gleichermassen wie für die Autobahnen. Leider funktioniert es nicht, Strassen auszubauen, um Staus zu beseitigen. Im Gegenteil. Man verschärft damit viele andere Probleme. Zum Beispiel die Zersiedelung, die in einem kleinen Land wie der Schweiz sehr besorgniserregend ist.

«Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Verkehr nicht auf der Autobahn beginnt oder endet.»

«direkt»: Sie reden vom sogenannten induzierten Verkehr?

Sébastien Munafò: Genau. Das nennt man induzierten Verkehr oder induzierte Nachfrage. Die induzierte Nachfrage ist ganz einfach eine Nachfrage, die erst entsteht, wenn die Infrastrukturprojekte angeschlossen sind und auch erst dann sichtbar wird. Dies gilt auch für den öffentlichen Verkehr. Nehmen wir zum Beispiel das Projekt des Léman Express. Bei diesem Projekt ist die Nutzung weitaus höher, als man erwartet hatte. Dasselbe gilt auch für die Strasseninfrastruktur.

«direkt»: Sie sagen also, dass diese Projekte den Verkehr auf den Hauptstrassen und in den Dörfern entlang der Autobahnen erhöhen werden?

Sébastian Munafò: Absolut. Der Ausbau und die damit verbundenen Möglichkeiten für die Bevölkerung werden sich auf die gesamte Region auswirken. Jedes Fahrzeug beginnt seine Reise auf einem Parkplatz, fährt dann auf einer Hauptstrasse und durchfährt ein Dorf, bevor es auf die Autobahn gelangt. Und so geht es auch weiter: Die Fahrzeuge verlassen die Autobahn und fahren in die Städte, in die ländlichen Dörfer, in weitere Ortschaften – bis zu einem weiteren Parkplatz. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Verkehr nicht auf der Autobahn beginnt oder endet. Die Autobahn ist immer nur ein Teil des Weges, den die Menschen zurücklegen, um sich fortzubewegen.

«Der Ausbau löst das eigentliche Problem – die Verkehrsüberlastung – nicht, sondern verschärft andere Probleme.»

«direkt»: In der aktuellen Kampagne werden viele verschiedene Zahlen genannt. Wem soll man glauben: den 350 Expert:innen, die sich kürzlich gegen die Ausbauprojekte ausgesprochen haben, oder Albert Rösti und dem ASTRA?

Sébastien Munafò: Jeder hat das Recht, seine Meinung zu äussern, ausserdem herrscht in der Politik oft eine andere Logik. Man kann Autobahnen unterstützen, weil sie eine Nachfrage für Unternehmen schaffen oder weil sie ein Projekt für eine bestimmte Region sind, aber dann muss man das auch offen sagen. Wenn sich 350 Mobilitätsexpert:innen öffentlich äussern, um auf die Folgen eines Autobahnausbaus hinzuweisen, dann deshalb, weil wir alle bereit sein müssen, die realen Konsequenzen dieses Ausbaus zu tragen. Ihr Arzt wird Sie wahrscheinlich daran erinnern, dass fünf Nutella-Toasts zum Frühstück ihrer Gesundheit schaden, aber letztlich müssen Sie selber entscheiden, ob Sie Ihren Konsum einschränken wollen.

«direkt»: Sie sind einer dieser 350 Expert:innen. Was sind die Konsequenzen, die Sie aufzeigen?

Sébastien Munafò: Die Folgen sind klar und nachvollziehbar. Der Ausbau löst das eigentliche Problem – die Verkehrsüberlastung – nicht, sondern verschärft andere Probleme. Die Stimmbürger:innen können ihre eigenen Entscheidungen treffen, aber sie müssen sich dabei auf verlässliche Zahlen und die Erfahrung der Fachleute verlassen können. Bei dieser Vorlage gibt es keinen Zweifel: Wir sind uns aufgrund der Forschung absolut im Klaren über die Folgen und Auswirkungen dieser Projekte.

Sébastien Munafò, zvg.

Sébastien Munafò ist Spezialist für Mobilitätsfragen. Er arbeitete unter anderem am Observatoire Universitaire de la Mobilité der Universität Genf und wechselte danach zum Laboratoire de Sociologie Urbaine der EPFL. Seine Forschung konzentriert sich auf das Mobilitätsverhalten, die Wahl des Verkehrsträgers und ihre Beziehung zur Raumplanung und sozioökonomischen Dynamiken. Derzeit ist er Projektleiter bei 6t-bureau.

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