Empört wendete sich Heidi Ammon (SVP), Präsidentin der Aargauer Gemeinde Windisch, Ende Februar an die Medien: Der Kanton hätte dutzenden von Mieter:innen die Wohnungen gekündet, um diese für ein Asylunterkunft zu nutzen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer – dank tatkräftiger Mithilfe von diversen Medien, welche Ammons Nachricht so wiedergaben.
Ein paar Tage später stellte sich heraus, dass die ursprüngliche Nachricht falsch gewesen war. Nicht der Kanton, sondern der Immobilienbesitzer hat den Mieter:innen gekündet. Er will das Haus abreissen und eine neue Liegenschaft bauen, um mehr Rendite zu erzielen. Der Kanton hat ihn gebeten, die Wohnungen in der Zwischenzeit zur Unterbringung von Geflüchteten zu nutzen. Der Schaden war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon angerichtet – Geflüchtete wurden gegen die Mieter:innen ausgespielt. Dieses Sündenbock-Narrativ der SVP wird in vielen Köpfen hängen bleiben: Geflüchtete nehmen uns den Wohnraum weg.
Was ist falsch gelaufen bei den Medien? Wir haben bei Prof. Dr. Guido Keel, Professor für Journalismus und Media Literacy am Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW nachgefragt. Keel hat für die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) eine Studie zu Diskriminierung in den Medien mitverfasst.
Mit Schlagzeilen wie «49 Mieter müssen Wohnungen wegen Asylunterkunft verlassen», wie sie bei 20 Minuten zu lesen war, werden Schleusen für rassistische und hetzende Äusserungen über Asylsuchende geöffnet. Welche Verantwortung haben die Medien in einem solchen Fall?
Guido Keel: Die Medien tragen die Verantwortung, die Gesellschaft möglichst unaufgeregt über relevante Geschehnisse zu informieren. Sie haben aber auch eine Verantwortung gegenüber Menschen und Minderheiten, über die sie berichten. Dieser Verantwortung sind sich die Medien durchaus bewusst. Aber oft sind es nicht die Artikel an sich, die problematisch sind, sondern die Zuspitzung in den Titeln. Diese kann aus erzählerischen oder kommerziellen Gründen erfolgen. Oft hat das auch nichts mit den einzelnen Journalisten und Journalistinnen zu tun. Diese setzten die Titel nicht in jedem Fall selbst. Die Schlagzeilen entstehen im redaktionellen Produktionsprozess. Ich kann mir vorstellen, dass sich bei 20 Minuten nicht alle wohl gefühlt haben mit dem besagten Titel.
Die Schlagzeile entpuppte sich ein paar Tage später zudem als falsch. Können Sie sich erklären, warum hier die Medienmitteilung von Gemeindepräsidentin Heidi Ammon nicht zuerst überprüft wurde?
Guido Keel: Als ich den Titel gelesen habe, dachte ich, dass dies Diskussionen geben würde. Ich kann in diesem spezifischen Fall nicht beurteilen, was richtig und was falsch ist. Aber dass anhand dieser Quellenlage eine solche Schlagzeile gesetzt wird, finde ich problematisch. Es ist zudem insbesondere im schnellen Online-Journalismus ein Problem, dass aufgrund von systemischen Faktoren wie Zeitdruck oder fehlende Ressourcen eine problematische Berichterstattung entsteht. So wird beispielsweise oft nur mit offiziellen Quellen gearbeitet und die Zeit fehlt, um die Perspektive der Betroffenen zu recherchieren und abzubilden.
Ist ein solcher Artikel erst einmal im Umlauf, ist es praktisch unmöglich, die Verbreitung zu stoppen. Welche Massnahmen und Mittel gibt es in solchen Fällen und was bringen sie?
Gudio Keel: Natürlich ist es so, dass sich eine solche Schlagzeile in vielen Köpfen festsetzt und auch durch spätere ergänzende Artikel nicht mehr relativiert wird. Die Wirkung der möglichen Massnahmen ist deshalb beschränkt und nicht unmittelbar. Eine Einsprache beim Presserat einzureichen, wie dies die SP nun gemacht hat, finde ich eine gute Sache. Mit rechtlichen Schritten vorzugehen, halte ich hingegen nicht für zielführend. Es ist wichtig, den öffentlichen Diskurs zu suchen. Dies ist in diesem Fall durch die Medienmitteilung der SP und die Reaktion durch 20 Minuten ebenfalls geschehen. Dadurch werden insbesondere auch Journalisten und Journalistinnen für solche heiklen Themen sensibilisiert.
Grundsätzlich sehe ich, dass sich der Ton in den Redaktionen zum Positiven verändert. 20 Minuten beispielsweise hat ein Board eingerichtet, das Journalist:innen berät, die über heikle Themen berichten. Dass nun doch eine solche Schlagzeile veröffentlicht wurde, zeigt aber, dass es noch Luft nach oben gibt.