Es ist kein Zufall, dass der Branchenverband der Gastronomie an vorderster Front für die Motion von Ständerat Erich Ettlin kämpft. Mit einem Mindestlohn von nur 3’582 Franken im Monat liegt der allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsvertrag der Branche nämlich deutlich unter dem Mindestlohn in Genf oder Basel. Durch eine Hintertür sollen die kantonalen Regelungen nun ausgehebelt werden, damit wieder tiefere Löhne ausbezahlt werden können. Das ist besonders problematisch, weil die Festlegung von kantonalen Mindestlöhnen – wie das Bundesgericht explizit festhält – eine sozialpolitische Massnahme ist, mit dem Ziel Working poor zu verhindern.
Mindestlöhne wirken gegen Working Poor
Gemäss Caritas Schweiz sind in der Schweiz 722’000 Menschen armutsbetroffen. 158’000 Personen sind sogenannte Working poor, die trotz Erwerbsarbeit als arm gelten. Genau hier setzen die kantonalen Mindestlöhne an. Die Kantone sind gemäss der Bundesverfassung dafür zuständig sozialpolitische Massnahmen zu ergreifen. Dies hat das Bundesgericht im Fall des kantonalen Mindestlohns in Neuenburg unmissverständlich bestätigt.
Auch die Wirtschaftswissenschaft ist sich mehrheitlich einig, dass die bürgerlichen Vorurteile gegenüber Mindestlöhnen überholt sind. Laut Michael Siegenthaler, Leiter der Konjunkturforschungsstelle KOF zeigen die Studien klar, dass Mindestlöhne positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Lohngleichheit haben.
Unterlaufen von demokratischen Mehrheitsentscheiden
Aus einer juristischen Perspektive ist der Sachverhalt für den Bundesrat klar. Er hält in seiner Stellungnahme zur Motion fest, dass mit der Motion die verfassungsrechtlichen Kompetenzen der Kantone beschnitten werden:
Gleich wie im Ständerat ist nun aber die bürgerliche Mehrheit in Nationalrat der Meinung, dass Vereinbarungen zwischen zwei privaten Organisationen höher gewichtet werden müssen als eine Mehrheit der Stimmbürger:innen in den betroffenen Kantonen.
Dieser Aspekt hat auch innerhalb der SVP, die sich normalerweise stark für die Kantonssouveränität einsetzt, im Vorfeld der Debatte zu erheblichen Spannungen geführt. Im Rat schliesslich folgt die SVP-Fraktion dem Aufruf der Wirtschaftsverbände fast geschlossen. Dies, obschon sich Fraktionspräsident Thomas Aeschi in der Kommission noch gegen die Motion ausgesprochen hat.
Für bürgerliche Politiker und Politikerinnen sind Rechtsstaat, Souveränität der Kantone und Gewaltenteilung solange gut, als sie ihren Interessen dienen. Und bürgerliche Politikerinnen und Politiker sind solange an der Macht, wie die Wählerinnen und Wähler ihre eignen Interessen nicht kennen (wollen).