In der Schweiz müssen Frauen immer extra lange warten und extra lange kämpfen, bis sie zu ihren Rechten kommen: Das Frauenstimmrecht gibt es erst seit 1971, die Liberalisierung der Abtreibung kam erst im Jahr 2002, Vergewaltigung in der Ehe gilt gar erst seit 2004 als Offizialdelikt. Die Schweiz ist im Vergleich zu anderen vergleichbaren Ländern gleichstellungspolitisch massiv im Rückstand – und scheint auch nicht daran interessiert, diesen aufzuholen.
Die Schweiz ist im Vergleich zu anderen vergleichbaren Ländern gleichstellungspolitisch massiv im Rückstand – und scheint auch nicht daran interessiert, diesen aufzuholen.
Der neue Global Gender Gap Report des World Economic Forum bestätigte, dass wir in Sachen Gleichstellung sogar acht Plätze eingebüsst haben. Laut einer Studie von UNICEF haben wir im internationalen Vergleich eine der teuersten Kinderbetreuungen: Ein Paar bezahlt rund 30-50 Prozent seines Gehalts, der internationale Durchschnitt liegt bei 14 Prozent. Auch in Bezug auf Das autoritäre Ungarn, das krisengeschüttelte Portugal, das patriarchal geprägte Italien? Alle vor der Schweiz. Nur in Japan, der Türkei und in Südkorea sind Karrieren von Frauen noch seltener.
Aber woher kommt dieser Rückstand? Ich denke, zwei Ursachen sollten genauer betrachtet werden.
Spätes Frauenstimmrecht ist Menschenrechtsbruch
Erstens müssen wir das späte Frauenstimmrecht als Menschenrechtsbruch ernster nehmen, als wir es bisher getan haben: Frauen konnten im Vergleich zu anderen Ländern erst sehr viel später an der offiziellen Politik teilnehmen. Diese enorme Verzögerung wirkt sich bis heute aus. Der Aufholarbeit steht im Weg, dass es in der Schweiz kaum Unrechtsbewusstsein über diesen gravierenden Menschenrechtsbruch gibt – nicht einmal eine Entschuldigung der offiziellen Schweiz haben wir für dieses Unrecht bisher gehört. Entsprechend gibt es auch kein Bewusstsein dafür, dass die Schweiz eigentlich in der Pflicht sein sollte, ein besonders hohes Tempo in Gleichstellungsfragen anzuschlagen.
Der Mythos des «schlanken Staats»
Zweitens: In der Schweiz haben rechte und bürgerliche Kräfte eine anti-staatliche Mentalität etabliert, die dazu führt, dass Verfassungsaufträge wie etwa die Gleichstellung der Geschlechter oft nicht für wichtig befunden und deshalb nicht umgesetzt werden. Der Historiker Jakob Tanner zeigte, dass reiche Bürger:innen in der Schweiz mehr als anderswo ihre Steuerprivilegien vor staatlichen Regelungen schützen wollten. Das haben sie geschafft, indem bürgerliche Kräfte während Jahrzehnten einen sogenannten «schlanken Staat» als Inbegriff von Freiheit proklamierten, und Investitionen in Gleichstellung oder andere Verfassungsaufträge als angeblich totalitäres, elitäres Projekt «von oben», als «Einmischung ins Private» schlecht machten. Demokratische Institutionen und Übereinkünfte erscheinen «dem Schweizer» heute als un-schweizerisch, denn «der Schweizer» macht, was er will, und nicht, was «die dort oben in Bern» sagen. Oder was wir gemeinsam in der Verfassung festgehalten haben.
Demokratische Institutionen und Übereinkünfte erscheinen «dem Schweizer» heute als un-schweizerisch, denn «der Schweizer» macht, was er will, und nicht, was «die dort oben in Bern» sagen. Oder was wir gemeinsam in der Verfassung festgehalten haben.
Eigentlich verpflichtet die Schweizer Bundesverfassung dazu, Gleichstellung nicht nur formal festzuhalten, sondern auch tatsächlich umzusetzen. Im Wortlaut: «Das Gesetz sorgt für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit» (Art. 8, Abs. 3). Die Betonung liegt hier auf «sorgt für». Für etwas «zu sorgen», bedeutet, zuständig zu sein, mehr noch: garantieren, dass etwas auch wirklich geschieht. Mit dem Zusatz, auch für die «tatsächliche» Gleichstellung zu sorgen, reagiert die Verfassung auf den Umstand, dass die Formulierung von gleichen Rechten allein nicht ausreicht. Anders gesagt: Auch wenn die rechtliche Gleichheit aller Menschen formal festgehalten ist, sind in der Alltagskultur immer noch sexistische Strukturen, Vorurteile, Ausbeutungsmechanismen wirksam. Deshalb braucht es eine aktive Gleichstellungspolitik, die sich einmischt, Geld in die Hand nimmt, Massnahmen ergreift. Oder wie es eben in der Verfassung heisst: Für die Umsetzung der tatsächlichen Gleichstellung sorgt.
Jene, die weiterhin am «schlanken Staat» festhalten, sollten offen eingestehen, dass ihnen an der Gleichstellung und dem Auftrag der Verfassung nichts liegt.
Das heisst: Die praktische Umsetzung von Gleichstellung ist eben nicht «Privatsache», sondern Auftrag des Staates. Es ist ein Grundprinzip demokratischer Gesellschaften, dass diese sich dazu verpflichten, Egalität nicht nur zu verkünden, sondern auch herzustellen. Das ist nicht «totalitär», das ist demokratisch.
Fast alle europäischen Länder investieren viel Geld in die Gleichstellung. Die Schweiz dagegen besteht auf ihrem heiligen anti-staatlichen Mythos, dass es Gleichstellung gratis geben müsse. Jene, die weiterhin am «schlanken Staat» festhalten, sollten offen eingestehen, dass ihnen an der Gleichstellung und dem Auftrag der Verfassung nichts liegt.
Ich wünschte, wir müssten in der Schweiz nicht mehr sämtliche feministischen Kräfte in liberaldemokratische Selbstverständlichkeiten investieren, sondern könnten endlich auch mutigere, weiterführende Ideen für unsere Zukunft diskutieren. Denn die braucht es.
Franziska Schutzbach ist Buchautorin, promovierte Geschlechterforscherin, feministische Aktivistin sowie Dozentin für Geschlechterforschung und Soziologie an der Universität Basel. 2021 hat sie den Bestseller «Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit» veröffentlicht.
Die Kolumne ist eine «Carte Blanche» und widerspiegelt die Meinung der Autorin.
Auf den Punkt gebracht – wobei ich der Meinung bin, dass viele Frauen aus dem bürgerlichen Lager diesem Zustand nicht abgeneigt sind, sondern sogar jene Frauen, die sich für die Gleichberechtigung einsetzen, in der Öffentlichkeit als ketzerische Feministinnen verurteilen. Einem Eigentor zugleich.
Super!