«Wir brauchen den Druck aus dem Ausland – es braucht einen Waffenstillstand!»

Der israelische Militärveteran Yehuda Shaul schaut mit Entsetzen auf ein Jahr voller Gewalt und Entmenschlichung zurück. Er zeigt auf, warum Selbstbestimmung für die Palästinänser:innen zwingend für einen gerechten Frieden ist. Der Friedensaktivist hat 2004 die Organisation «Breaking the Silence» mitgegründet.

Khan Younis, Gazastreifen, Ende September 2024. Foto: Haitham Imad (Keystone/EPA)
«direkt»: Yehuda Shaul, vor einem Jahr hat die Hamas in Israel 1’200 Menschen getötet. Der Gegenschlag der israelischen Armee in Gaza dauert bis heute an – bereits über 42’000 Personen wurden getötet. Auf beiden Seiten gehören auch viele Zivilist:innen zu den Opfern. Derweilen droht sich der Krieg in der ganzen Region zu einem Flächenbrand auszuweiten. Was macht diese aktuelle Situation mit einer Gesellschaft?

Yehuda Shaul: Es war ein durch und durch schreckliches Jahr. Es gibt zwei Arten, um auf das Massaker vom 7. Oktober zu reagieren: Man kann sein Herz entweder mit Wut, Zorn und Rachegelüsten füllen oder mit Menschlichkeit und Mitgefühl. Viele Angehörige der Opfer und der Geiseln, die nach Gaza entführt wurden, haben diese Menschlichkeit nicht verloren, trotz des unermesslichen Leids. Klar muss sein: Die flächendeckende Bombardierung von Gaza wird weder Sicherheit noch Stabilität bringen, sondern vielmehr die Saat sähen, die kommende Generationen mit tiefem Hass erfüllen wird. Was es braucht, ist eine diplomatische Lösung. Nur so werden wir die Geiseln retten können. Doch daran ist die israelische Regierung nicht interessiert.

«Wer jüdisches und palästinensisches Leben schützen will, muss sich für diplomatische Bemühungen einsetzen und die Ursachen beseitigen. Es geht hier um 57 Jahre militärische Besatzung. Es geht um mehr als 70 Jahre Vertreibung der Palästinenser:innen.»

«direkt»: Sie setzen sich seit Jahren für ein friedliches Miteinander ein. Wie geht es Ihnen in der aktuellen Situation?

Yehuda Shaul: Wir Friedensaktivist:innen haben seit Jahren davor gewarnt, dass es nicht möglich ist, diesen Konflikt zu «managen», solange die Besatzung im Westjordanland und die Belagerung im Gazastreifen weitergehen. Wir können nicht Millionen von Palästinenser:innen ihrer Rechte und Würde berauben und gleichzeitig langfristig in Sicherheit und Frieden leben. Eine solche Situation wird einem früher oder später um die Ohren fliegen. Doch niemand hat auf unsere Warnung gehört. Trotzdem oder gerade deswegen waren wir vor einem Jahr extrem schockiert. Das Ausmass der Entmenschlichung und Grausamkeit von Seiten Hamas war schlicht unerträglich. Ich wurde regelrecht krank davon. Es ist aber wichtig, nicht zu vergessen, dass das alles nicht am 7. Oktober begonnen hat.

Yehuda Shaul (Foto: www.ofekcenter.org.il)
«direkt»: Gerade in westlichen Medien wurde dies zum Teil so dargestellt.

Yehuda Shaul: Die internationale Gemeinschaft muss verstehen: Wer jüdisches und palästinensisches Leben schützen will, muss sich für diplomatische Bemühungen einsetzen und die Ursachen beseitigen. Es geht hier um 57 Jahre militärische Besatzung. Es geht um mehr als 70 Jahre Vertreibung der Palästinenser:innen. Jüdische Selbstbestimmung kann nur einhergehen mit palästinensischer Selbstbestimmung.

«direkt»: Sie waren während der zweiten Intifada selbst Soldat im Westjordanland und gründeten 2004 zusammen mit anderen Soldat:innen die Organisation «Breaking the Silence». Was waren Ihre Beweggründe?

Yehuda Shaul: Ich bin in einer politisch rechtsgerichteten Familie aufgewachsen. Mein Gymnasium habe ich in einer illegalen Siedlung im Westjordanland besucht. Auch meinen Dienst habe ich dort absolviert – während der zweiten Intifada. Das, was ich dort gemacht habe, brachte mich dahin, wo ich heute bin. Es geht dabei nicht einmal um die schlimmsten und gewalttätigsten Dinge, sondern es geht um die alltägliche Routine: Darum, was es braucht, um militärische Besatzung durchzusetzen.

«direkt»: Wie muss man sich das vorstellen?

Yehuda Shaul: Die israelische Armee sollte immer und überall sein. Die Palästinenser:innen sollten sich ständig unter Beobachtung fühlen und in Angst leben, 24/7. Wenn eine Militäreinheit um ein Uhr morgens in Ihr Haus eindringt, dieses durchsucht, auf die Strasse geht, ein paar Schockgranaten wirft, etwas Lärm macht, zur anderen Strassenecke rennt und in ein anderes beliebiges Haus eindringt – das verbreitet Angst und Schrecken. Jede Nacht werden seit Jahrzehnten alleine in der Stadt Hebron zwanzig Familien so aus dem Schlaf gerissen, während wir in der Schweiz oder in Jerusalem ruhig schlafen.

«Die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich – im Grunde sind sie Faschisten in der israelischen Regierung – sind bereit, die Geiseln zu opfern. Ihr Ziel ist es, den Gazastreifen zu besetzen und am Ende die Palästinenser:innen zu vertreiben.»

«direkt»: Das haben Sie nicht mehr ausgehalten.

Yehuda Shaul: Ja, ich wusste: Das was wir tun, ist moralisch falsch. Ich konnte nicht einfach weiter machen, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Die Gesellschaft und die Welt müssen wissen, wie unsere Armee vorgeht.

«direkt»: «Breaking the Silence» ist bis heute sehr aktiv und hat grosse internationale Ausstrahlung. Seit dem 7. Oktober kritisiert sie die Art der Kriegsführung in Gaza scharf. Steht die Bevölkerung hinter dem Vorgehen der Regierung?

Yehuda Shaul: Israel musste sich nach dem 7. Oktober verteidigen, das ist für mich klar. Aber alles hat seine Grenzen. Der Verteidigungsschlag muss zwingend innerhalb der Grenzen des humanitären Völkerrechts geschehen. Es geht hier auch um das moralische Versagen unserer Gesellschaft. Ich bin froh, dass es dagegen in Israel und international Proteste gibt. Aber ich glaube traurigerweise nicht, dass die Proteste hier viel verändern werden. Jetzt braucht es internationalen Druck auf die Regierung.

«Ich bin schockiert über den Blankoscheck, den Israel von der internationalen Gemeinschaft erhalten hat. Damit kann Netanyahu die Bombardierung von Gaza auf unbestimmte Zeit fortsetzen.»

«direkt»: Wohin wird es sonst führen?

Yehuda Shaul: Die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich – im Grunde sind sie Faschisten in der israelischen Regierung – sind bereit, die Geiseln zu opfern. Ihr Ziel ist es, den Gazastreifen zu besetzen und am Ende die Palästinenser:innen zu vertreiben. Und Netanyahu? Er will einfach an der Macht bleiben. Es ist also klar: Mit dieser Regierung kommen wir nicht weiter. Wir brauchen den Druck aus dem Ausland – es braucht einen Waffenstillstand!

«direkt»: Aktuell droht der Krieg weiter zu eskalieren: Israel bombardiert Ziele im Libanon, der Iran greift Israel mit Raketen an. Wie geht es jetzt weiter?

Yehuda Shaul: Ich bin schockiert über den Blankoscheck, den Israel von der internationalen Gemeinschaft erhalten hat. Damit kann Netanyahu die Bombardierung von Gaza auf unbestimmte Zeit fortsetzen. Ich bin wirklich sehr besorgt, nicht nur weil wir den Hass ernten werden, denn wir in Gaza säen, sondern auch für die Welt, wenn die internationale Gemeinschaft nicht mehr einschreitet, wenn das humanitäre Völkerrecht mit Füssen getreten wird. Das darf so nicht weitergehen.

Yehuda Shaul

Yehuda Shaul ist in Israel geboren und aufgewachsen. 2004 gründete er zusammen mit anderen Soldat:innen «Breaking the Silence». Die Organisation veröffentlicht Berichte von Soldat:innen aus den besetzten Gebieten und setzt sich für ein Ende der militärischen Besetzung Palästinas ein. Shaul blieb bis 2019 bei «Breaking the Silence». Seit 2020 ist er Co-Leiter des Thinktanks OFEK, einem  israelischen Zentrum für öffentliche Angelegenheiten, das sich für die Zwei-Staaten-Lösung einsetzt.

 


 

 

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