Bei gleichbleibender Arbeit von heute auf morgen 350 Franken im Monat weniger verdienen? Das droht den Mitarbeiter:innen in Genfer Textilreinigungen und in Tessiner Industriestätten. Mitte-Rechts will die kantonalen Mindestlöhne mit einem neuen Bundesgesetz aushebeln – das hat der Nationalrat bereits beschlossen.
SP spricht von «Putsch der Chefs»
In der Debatte im Nationalrat um die Mindestlöhne hat die linke Seite ihrem Ärger über die Lohnsenkungen für Tieflohnbezüger:innen Luft gemacht. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth sagte, dass das Parlament immer einen Grund gefunden habe, um die horrenden Löhne der Topmanager nicht deckeln zu müssen. Jetzt wolle der Nationalrat ausgerechnet bei jenen die Löhne senken, die bereits mit ihrem aktuellen Lohn Mühe haben, am Ende des Monats die Krankenkassenprämien und die Miete zu bezahlen. «Das ist ein parlamentarischer Putsch der Chefs und der Bosse gegen die Lohnabhängigen», so Wermuth.
Tatsächlich würde das neue Gesetz, das auf eine Motion von Mitte-Ständerat Erich Ettlin zurückgeht, gesetzliche Mindestlöhne aushebeln. Die Vorlage würde dazu führen, dass Tausende Tieflohnbetroffene wieder eine Lohnsenkung zu befürchten hätten, obwohl ihre Mindestlöhne in Volksabstimmungen demokratisch beschlossen wurden. Die SP hat deshalb bereits angekündigt, dass sie die Vorlage mit einem Referendum bekämpfen wird, falls der Ständerat ebenfalls zustimmt. Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund macht klar, dass er sich mit aller Kraft gegen dieses Lohnsenkungsgesetz wehren wird. Wer arbeite, müsse von seinem Lohn leben können. Formularbeginn
Bundesrat: Aushebelung der Mindestlöhne ist verfassungs- und rechtswidrig
Selbst der rechtsdominierte Bundesrat lehnt die Gesetzesänderung klar ab. Er hält fest, dass sie gegen die Bundesverfassung und mehrere Grundprinzipien der Schweizer Rechtsordnung verstösst – unter anderem gegen die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen, insofern im Rahmen der Sozialpolitik die Kantone für die Festlegung der Mindestlöhne zuständig sind.
Es ist daher auch kaum verwunderlich, dass sich 25 von 26 Kantone gegen die Vorlage aussprechen. Auch wenige bürgerliche Parlamentsmitglieder sprechen sich gegen die Aushebelung der kantonalen Mindestlöhne aus: Der Tessiner Mitte-Nationalrat Giorgio Fonio wollte während der Debatte wissen, weshalb die zuständige Kommission den Föderalismus und die kantonalen Volksentscheide nicht respektiere. Der Berichterstatter Thomas Burgherr (SVP) antwortete süffisant: «Die Kommission hat andere Prioritäten gesetzt.» Welche Prioritäten der Ständerat setzt, wird sich bei der Behandlung des womöglich ersten Schweizer Lohnsenkungsgesetzes zeigen.