Aresu Rabbani: «Die Taliban haben den Frauen alles genommen.»

Geflüchtete Frauen aus Afghanistan erhalten seit letztem Sommer in der Schweiz Asyl. Dies sorgt bei den rechten Parteien für Empörung. Sie wollen mit mehreren Vorstössen den Entscheid des Staatssekretariats für Migration rückgängig machen. Damit verkennen sie die Situation dieser Frauen, findet die junge Afghanin Aresu Rabbani, die seit 15 Jahren in der Schweiz lebt. «direkt» hat mir ihr gesprochen.

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor drei Jahren hat sich die Situation für die Frauen dramatisch verschlechtert. Foto: Keystone/AP (Rodrigo Abd)

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat letzten Sommer entschieden, dass Frauen aus Afghanistan Anrecht auf Asyl haben. Sie sollen damit nach positiver Einzelfallprüfung nicht mehr eine vorläufige Aufnahme (Ausweis F) sondern eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung als anerkannte Flüchtlinge (Ausweis B) erhalten. Der Auslöser für die Praxisänderung: Vor drei Jahren haben die Taliban in Afghanistan die Macht zurückerobert. Dies hat das Leben der Menschen in Afghanistan dramatisch verändert – vor allem von Frauen. Trotz zahlreichen Berichten über die massiven Menschenrechtsverletzungen versuchen nun FDP und SVP, diese Praxisänderung des SEM Rückgängig zu machen. In der kommenden Session stimmt der Nationalrat über eine entsprechende Motion von SVP-Nationalrat Gregor Rutz ab. Diese wurde in der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats nur knapp mit 13 zu 12 Stimmen abgelehnt.

«Die Taliban haben den Frauen alles genommen. Sie dürfen nicht arbeiten, keine Ausbildung mehr machen.»

Aresu Rabbani, 28 Jahre alt und vor 15 Jahren zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in die Schweiz geflüchtet, hat kein Verständnis für diesen Vorstoss: «Die Taliban haben den Frauen alles genommen. Sie dürfen nicht arbeiten, keine Ausbildung mehr machen.» Rabbani ist mittlerweile in der Schweiz eingebürgert und schliesst bald ihr Studium als Hebamme ab. Über WhatsApp und Telegram bleibt sie in Kontakt mit Frauen in ihrem Herkunftsland. «Manchmal höre ich wochenlang nichts. Meine Cousine zum Beispiel war von einem Tag auf den anderen für ein paar Monate verschwunden. Wir wussten weder wie es ihr geht noch ob sie am Leben ist.»

Aresu Rabbani ist seit 15 Jahren in der Schweiz. Foto: zVg

Afghaninnen in Lebensgefahr

Dass die SVP und die FDP die SEM-Praxisänderung rückgängig machen wollen, bezeichnet sie als Affront für alle Afghaninnen. «Es ist höchste Zeit, ihre unglaublich schwierige Situation anzuerkennen und ihnen eine Chance zu geben.» Nach den vielen traumatisierenden Erfahrungen bräuchten sie dringend einen Ort, wo sie ein neues Leben aufbauen können. «Auch für die Schweiz wäre das sinnvoll: Diese Frauen könnten gerade jetzt in Zeiten des Arbeitskräftemangels viel beitragen», sagt Aresu Rabbani.

Die meisten Frauen in Afghanistan führen ein Leben im Verborgenen. Nur noch wenige versuchen ihre Rechte zurückzufordern.  «Wenn sie sich treffen, um sich abzusprechen, sind sie starken Repressionen ausgesetzt», so Rabbani. Viele von ihnen sind Opfer von gewalttätigen Übergriffen geworden. Besonders stark von Gewalt betroffen sind Frauen der ethnischen Minderheit der Hazara. «Die Taliban ermorden gezielt schwangere Frauen.»

Bürgerliche Richter gegen Praxisänderung

Aufgrund der Schilderungen von Aresu Rabbani ist der Schluss zwingend, dass Frauen wegen ihres Geschlechts in Afghanistan an Leib und Leben bedroht sind. Damit haben sie ein Anrecht auf Asyl. So steht es in der Genfer Flüchtlingskonvention und so sieht es auch das SEM. Ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs stützt diese Praxis. Bis vor kurzem war dies auch die Praxis des Bundesverwaltungsgerichts.

Kürzlich hat das Gericht aber entschieden, dass die Praxisänderung für Frauen nicht generell gelte. Als Begründung führt das Gericht an, dass die Haltung des SEM, wonach weiblichen Asylsuchenden aus Afghanistan «die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen» sei, nicht bedeute, dass die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht als Asylgrund genüge. Um als Flüchtling anerkannt zu werden, brauche es ein weiteres individuelles Verfolgungsmerkmal. Pikant dabei: Das Urteil haben zwei SVP- und ein FDP-Richter gefällt.

«Ich bin stolz in der Schweiz leben zu dürfen und etwas zur Gesellschaft beitragen zu können. Aber für diesen Status der vorläufigen Aufnahme – dafür schäme ich mich.»

Perspektive durch Asylentscheid

Dank der Praxisänderung des SEM können Afghaninnen in der Schweiz einfacher ein neues Leben aufbauen und an der Gesellschaft teilhaben. Das liegt an der unterschiedlichen Ausgestaltung des Aufenthaltsstatus. Wer nur vorläufig aufgenommen ist, kann zwar in der Schweiz bleiben, aber die Rechte und die Möglichkeiten, sich in die Gesellschaft einzubringen, sind massiv eingeschränkt. Rabbanis Mutter hat seit 15 Jahren einen Ausweis F: «Auf eigenen Beinen stehen ist damit sehr schwierig. Sie kann weder in einen anderen Kanton umziehen noch ins Ausland reisen.» Auch die Jobsuche ist schwierig. Viele bleiben trotz grossen Bemühungen arbeitslos und müssen von der Sozialhilfe leben. Diese fällt je nach Kanton um mehrere hundert Franken tiefer aus als die Sozialhilfe für anerkannte Flüchtlinge.

Rabbani hat eine klare Meinung zur vorläufigen Aufnahme: «Ich bin stolz in der Schweiz leben zu dürfen und etwas zur Gesellschaft beitragen zu können. Aber für diesen Status der vorläufigen Aufnahme – dafür schäme ich mich.»

«Niemand verlässt freiwillig sein Land, seine Kultur und seine Familie. Das macht man nur, wenn man wirklich keine andere Wahl hat.»

Entscheid folgt in der Sommersession

Der Nationalrat wird in der kommenden Sommersession über den Vorstoss von Rutz befinden. Folgt er der Kommission, ist die Motion vom Tisch. Rabbani wird die Abstimmung mitverfolgen. Sie hofft, dass die Parlamentarier:innen die verzweifelte Situation der afghanischen Frauen vor Augen haben und daran denken: «Niemand verlässt freiwillig sein Land, seine Kultur und seine Familie. Das macht man nur, wenn man wirklich keine andere Wahl hat.»

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